nd-aktuell.de / 18.04.2015 / / Seite 19

Subjektive Zeugnisse helfen begreifen

Historiker Dominiek Dendooven über jüngere Quellen zum deutschen Gasangriff am 22. April 1915

Aus welchen Augenzeugenquellen haben Sie geschöpft?

Von Offizieren und Soldaten der verbündeten Streitkräfte, die gegen Deutschland kämpften. Aber auch von belgischen Zivilisten sowie von einem deutschen Giftgas-Pionier. Naturgemäß sind die Berichte subjektiv und widersprechen sich mitunter. Das liegt daran, dass manche Berichte kurz nach dem Angriff entstanden, andere Jahre oder Jahrzehnte später. Manchmal gibt es Faktenfehler - wie die von Siebert genannte, zu hohe Todesopferzahl -, nie jedoch hinsichtlich der Gefühlsregungen.

Hatten Sie Aussagen von Soldaten aus vorderster Front?

Wenige. Der Grund: Da es am 22. April 1915 keine Gasmasken gab, jedenfalls nicht bei den Gegnern der Deutschen, überlebten nur sehr wenige in den Schützengräben, die der Chlorgaswolke direkt ausgesetzt waren. Daher ist es im Nachhinein unmöglich, einen exakten Überblick von denen zu bekommen, die als erste vom Gas heimgesucht wurden. Dennoch helfen uns Zeugenberichte.

Welche Aussagen waren neu?

Bei der Forschung habe ich mich zuletzt vor allem auf bisher gänzlich unbekanntes oder weniger genutztes Material konzentriert. Die Quellen sind entweder erst kürzlich entdeckt worden oder sie sind in einer Sprache verfasst, die den meisten Lesern nicht vertraut ist, etwa im westflämischen Dialekt. Daneben gibt es natürlich wichtige Aussagen in bekannten Veröffentlichungen. Die habe ich ausgespart. Hierzu zählen etwa General Mordacqs Publikation »Le Drame de l’Yser« von 1933 oder das ein Jahr drauf veröffentlichte Werk »Der deutsche Gasangriff bei Ypern am 22. April 1915« von Dr. R. Hanslian. Während Mordacq, der im April 1915 nahe Ypern eine französische Brigade der 45. Division kommandierte, sein Buch schrieb, um »die ewige Schlechtigkeit der Deutschen« zu demonstrieren, wurde dies von Nazi-Deutschland sofort zurückgewiesen. Hanslians Buch ist folglich eine Reaktion auf Mordacq.

Warum war der deutsche »Gas-Pionier« interessant?

Willi Siebert war ein wichtiger Zeuge - und eine interessante Person (1893-1972). Er hatte studiert, um Chemiker oder Apotheker zu werden. Als der Weltkrieg ausbrach, war er Handelsvertreter für Farben und Lacke. Er diente in einem Infanterieregiment, wurde aber Anfang 1915 »Gas-Pionier«. Von da an half Siebert den Angriff von Ypern vorzubereiten und auszuführen. Später wurde er an der Ostfront selbst Gasopfer und verbrachte den Rest des Krieges in der Etappe. 1921 emigrierte er und ließ sich in Kalifornien nieder.

Wie sind Sie an seine Aussage gekommen?

Er hat seine Erinnerungen Sohn Bill in den frühen 30er Jahren in Kalifornien erzählt und dabei - etwa in puncto Opferzahlen - auch Ungenauigkeiten begangen. Das hängt wohl mit dem größeren Bild seiner nun verarbeiteten Erinnerungen zusammen. Offenkundig wollte er seinem Sohn verdeutlichen, was Krieg überhaupt bedeutet. »In Flanders Fields« bekam eine Kopie der Aussage, nachdem Sieberts Sohn Ende 1998 einstige Schlachtfelder in Flandern besucht hatte. Sie war größtenteils unveröffentlicht geblieben.

Worin besteht, jenseits der Einzelaussagen, der Wert solcher Zeugnisse?

Unser Museum macht es sich zur Aufgabe, die Geschichte des Ersten Weltkriegs nicht nur mit Zahlen und Fakten zu zeigen, sondern auch mit Hilfe der Stimmen jener, die ihn durchlebt haben. Zahlen und Fakten sind unerlässlich für den Überblick. Ich bin aber der Meinung, dass es der subjektiven Stimme bedarf, um ein so enormes Ereignis zu begreifen. Daher hoffe ich, dass solche menschlichen Dokumente zum besseren Verständnis des ersten Giftgasangriffs beitragen.