Wachsen, ohne rot zu werden

Ein Roman mit Potenzial zum Jüngerwerden: »Mädchenmeute« von Kirsten Fuchs

Rafik Schami hat einmal bei einer Lesung, bei der er mehr erzählte als las, gesagt, das Schönste für ihn als Schriftsteller sei, wenn er sehe, wie die Zuhörerinnen und Zuhörer vor seinen Augen immer jünger werden. Ein Roman mit Potenzial zum Jüngerwerden ist auch Kirsten Fuchs’ »Mädchenmeute«. Denn Abenteuer halten jung. Oder machen jung. Und erwachsen. Was aber kein Widerspruch ist, es kommt nur auf die Perspektive an. »Man war erwachsen, legte ich fest, wenn man nachts auf andere aufpassen konnte.« Die 15-jährige Charlotte beschließt, dass eine Nachtwache im tiefsten Wald im Erzgebirge, wo seltsame Dinge vor sich gehen, die bessere Form der Jugendweihe wäre als »dieses Tralala mit Schlips und Haare hochstecken, Pickel überschminken und was aufs Konto kriegen«. Und sie muss es wissen.

Am Anfang der Geschichte kommuniziert Charlotte vor allem über Schulterzucken, »das ›ja‹ und ›nein‹ heißen konnte, meistens aber ›nein‹«, weil sie beim Sprechen immer rot wird und ihr das wahnsinnig peinlich ist. »Beim Sagen musste man sprechen, und dann hörten einem die anderen zu, sahen einen an, und dann konnte man ja nichts mehr sagen.« - Ein unlösbares Dilemma! Peinlicher als rot zu werden sind ihr naturgemäß nur die Eltern, die ein Reinigungsunternehmen betreiben und deren Lieferwagen, in dem sie selbst immer zwischen klappernden Schrubbern und Eimern auf einem kleinen Klappsitz mit Hüftgurt sitzen muss, die Aufschrift »Blitzeblank Nowak & Nowak« schmückt. Entsprechend lautet eine von Charlottes wenigen Gewissheiten: »Das sollte nicht mein Leben werden, mir irgendeinen suchen, der auch gern putzt, und dann einen Hintensitzer zeugen.«

Ihre Mutter benimmt sich - typisch Mutter -, »als hätte sie was über Jugendliche gelesen und würde mich mit denen verwechseln, nur weil wir gleich alt waren«, und meldet Charlotte zu einem »Ferien-Fun-Survival-Camp« an. So müssen Ferienlager heutzutage nun einmal heißen. Die Veranstaltung gerät allerdings gleich zu Beginn völlig aus den Fugen - aus Gründen, deren Aufklärung wesentlicher Teil der 463 Seiten Romanhandlung ist. Jedenfalls treiben Satanisten ihr Unwesen (allerdings ohne größeren Eindruck zu hinterlassen, denn »Satanisten mit Rechtschreibschwäche waren wie Vampire mit Zahnspangen«) und die sogenannte Aufsichtsperson wird zuletzt mit toten Katzen in einer Pfütze gesehen.

Sieben Mädchen stehen plötzlich vor der Wahl: nach Hause fahren oder ein echtes Abenteuer erleben. Die kratzbürstige Bea hat das schlagende Argument: »Unsere Eltern denken, dass wir im Camp sind. Niemand vermisst uns in den nächsten zwei Wochen. Wir können machen, was wir wollen! So frei sind wir nie wieder. Nie wieder in unserem Leben.« So wird aus dem Wald an der See der tiefe Wald des Erzgebirges, aus einem alten Barackendorf ein halb verschütteter Bergwerksstollen. Eine Hundemeute, die den Mädchen quasi vor die Füße läuft, ersetzt die Begleitpersonen. Survival-Camp bleibt Survival-Camp, bloß eben anders als geplant.

Jedoch mit den typischen Phänomenen, die eine Gruppenreise so mit sich bringt. Die Zeitwahrnehmung verändert sich, etwa im Rückblick auf den Beginn des Abenteuers: »Fünftausend Jahre war das her. Zweieinhalb Wochen. Fast drei.« Vertrautes wird fremd und umgekehrt: »Der Ort Kinderzimmer kam mir vor wie eine Kleinstadt auf der anderen Seite der Welt.« Und innerhalb der Gruppe entwickeln sich ganz eigene Dynamiken: »Zum Schlafen kuschelten wir uns zusammen. Kam es mir nur so vor, oder lagen wir enger als sonst? Der Tunnel kam mir auch enger vor. Er war wie ein großer Schlafsack für uns alle.« Die große Charlotte, die coole Bea, die schöne Anuschka, die kleine Antonia, die altmodische Freigunda, die reiche Yvette und die lustige Rike werden zusammen etwas Neues. Obwohl ihre Vorstellungen davon, wie der Alltag in der Wildnis zu meistern ist, bisweilen auseinandergehen - »Freigunda wollte jagen gehen. Bea klauen. Yvette kaufen« -, ergänzen sie sich wunderbar. Eine kann Kräuter sammeln, eine kochen, eine organisieren, eine Leitern basteln ... Und jede ist auf ihre Art zugerichtet, durch Eltern, die sich zu viel oder zu wenig kümmern, die zu seltsam oder zu gewöhnlich sind, durch Ängste, Unsicherheiten oder die eigenen Unzulänglichkeiten.

Der alten chinesischen Weisheit folgend, je idyllischer eine Landschaft, desto seltsamer ihre Bewohner, streunen Figuren in der Gegend herum, die selbst aus den Sagen entsprungen scheinen, die die Mädchen kennenlernen. Eine haarsträubende Dorfgeschichte entspinnt sich. Ein Skelett liegt in einem Tunnel, fünf Mädchen und drei Hunde verschwinden, eine seltsame Frau läuft mit einem Benzinkanister weg und die Presse fällt ein.

Charlotte lernt derweil sprechen. Und wachsen. Zunächst entwickelt sie eine spezielle Technik: »Ich nahm den Arm wieder runter und ließ die Wörter aus meinem Kopf in den Mund und raus.« Sie kämpft zum ersten Mal, bis sie nicht mehr kann. Es geht aufwärts. »Dann erhob ich mich zur vollen Größe. Einen Meter achtundsiebzig.« Bei den Jungs, die dann auch eine Rolle spielen, muss sie sich noch selbst überlisten: »Komisch, dachte ich, die wissen ja gar nicht, wie schüchtern ich bin. Dann muss ich es auch nicht sein.« Aber am Schluss findet sie sich selbst cool, sogar ohne alle anderen: »Ich ging allein weiter. Und als ich dachte, ich würde nicht mehr wachsen, da wuchs ich noch ein Stück.«

Kirsten Fuchs: Mädchenmeute. Rowohlt Berlin. 463 S., geb., 19,95 €.

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