Worüber nicht laut gesprochen werden konnte

Varujan Vosganian: »Buch des Flüsterns« über das Sterben und Leben der Armenier im 20. Jahrhundert

  • Adelheid Latchinian
  • Lesedauer: 3 Min.

Am 24. April werden Armenier am Genozid-Mahnmal in Jerewan und andernorts in der weltweiten Diaspora der über 1,5 Millionen Landsleute gedenken, die vor 100 Jahren dem Völkermord im Osmanischen Reich zum Opfer gefallen sind. Im Potsdamer Lepsiushaus wird man dies schon vorher mit einer Lesung aus dem neuen Roman von Varujan Vosganian verbinden.

Der 1958 in Rumänien geborene Autor ist armenischer Abstammung und bislang mehr als Politiker denn als Schriftsteller hervorgetreten. Mit dem Titel seines Werkes spielt er auf das »Buch der Klagen« an, in dem Grigor Narekazi vor mehr als tausend Jahren in gedankenreichen und wortgewaltigen Versen Linderung, Heilung, Rettung in heillosen Zeitläuften erfleht hatte. Mit dem »Flüstern« trifft Vosganian nun recht genau die Kommunikationsweise, die angesichts allgegenwärtiger Bespitzelung am ratsamsten erscheint.

Einst hatte der Heranwachsende unter dem Aprikosenbaum den beklemmenden Geschichten seines Großvaters Garabet gelauscht, der nach der Flucht vor dem Massenmorden mit den Seinen im rumänischen Focsani eine neue Heimat gefunden hatte. Genau aus dieser Konstellation heraus lässt er nun seinen Ich-Erzähler berichten, wie historische Schlüsselereignisse mit unerbittlicher Wucht die Lebenswege vieler Menschen durchkreuzen, bedrohen, zunichtemachen oder bestenfalls zu neuen Ufern führen.

Das »Zeitalter der Extreme« also als armenischer Leidensweg, Authentisches verwebt zu einem Teppich von Geschichten: Schon unter dem osmanischen Sultan Abdülhamid kam es seit den 1890er Jahren zunehmend zu Pogromen und Massakern an der christlichen westarmenischen Minderheit. Diese eskalierten im Schatten des Ersten Weltkrieges gemäß dem Türkisierungsprogramm der nunmehr herrschenden jungtürkischen Ittihad-Partei um Talaat und Enver Pascha 1915/16 in planmäßig durchgesetzten grausamen genozidalen Maßnahmen zur Vertreibung und Vernichtung der Armenier, die bis exzessiv 1922 fortgesetzt wurden. Es kam zu verzweifelten Fluchten der Überlebenden - über die syrische Grenze oder das schwarze Meer. Infolge einer Repatriierungsaktion nach dem Zweiten Weltkrieg kamen etwa 200 000 Diaspora-Armenier mit großen Hoffnungen in die UdSSR, landeten aber nicht in der armenischen Sowjetrepublik, sondern vielfach infolge Stalinschen Misstrauens im sibirischen Gulag.

Diejenigen, die wie Vosganians Vorfahren nach Rumänien flohen, bekamen es noch mit ganz anderen Problemen zu tun. Da ist von der Kollektivierung der Landwirtschaft die Rede, die, von der Gewalt der Securitate begleitet, gleichfalls Opfer forderte. Oder schließlich von den Bücherverbrennungen als wiederkehrendes furchteinflößendes Ritual an der Schwelle fast jeglichen Machtwechsels ...

Dieses für manche Leser auch Neue wird atmosphärisch detailreich in seinen fatalen Hintergründen und tragischen Folgen psychologisch-philosophisch ausgeleuchtet, wobei mitunter unversehens auch Komisches aufblitzen kann und die überwiegend realistische Erzählweise ins Märchenhaft-Phantastische gleitet.

In seinem bunten typenreichen Figurenensemble lotet Vosganian vorzugsweise aus, was manche seiner Landsleute lebenslang zu Kämpfern macht. Abgrundtiefer Hass angesichts durchlittenen Unrechts und demütigender Benachteiligung ihres kleinen Volkes führte zum Beispiel zur »Operation Nemesis«, zur Selbstjustiz an den Hauptschuldigen des Genozids. Verbunden mit illusionären Vorstellungen von der »Befreiung Armeniens« kam es im Zweiten Weltkrieg mitunter sogar zur Kollaboration mit Hitlerdeutschland. Das betrifft im Roman insbesondere General Dro, der eine Wehrmachtslegion aus sowjetischen Kriegsgefangenen armenischer Herkunft zusammenstellte.

Daneben gilt Vosganians Roman vor allem auch dem friedfertigen und tüchtigen Einsatz geflüchteter Armenier in ihrer neuen Heimat, sei es als umsichtige, teils erstaunlich erfolgreiche Kaufleute oder begnadete Künstler. Den nachhaltigsten Eindruck hinterlässt der lebensweise Großvater Garabet: Gebildet, vieler Sprachen mächtig, weltgewandt und besonnen, tut er - eine echte Künstlernatur - alles, um auf Zukünftiges hin das Leben der Seinen mit Würde und Schönheit zu erfüllen.

Varujan Vosganian: Buch des Flüsterns. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Paul Zsolnay Verlag. 512 S., geb., 26 €. Lesungen des Autors: 21. April, 15 Uhr, im Lepsiushaus, Große Weinmeisterstraße 45, Potsdam. 21. April, 20 Uhr, Literaturhaus Berlin Fasanenstraße 23. 22. April, 20 Uhr, Gasteig Black Box, Rosenheimer Straße 5, München.

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