nd-aktuell.de / 20.04.2015 / Kultur / Seite 16

Ohne Worte

Sasha Waltz choreografierte Hector Berlioz’ »Roméo et Juliette« in der Deutschen Oper Berlin

Irene Constantin

Aber das ist ja nicht neu - so der etwas maulende Unterton vor der Premiere. Tatsächlich hat Sasha Waltz ihre Choreografie zu Hector Berlioz’ Symphonie Dramatique »Roméo und Juliette« schon 2007 in Paris herausgebracht und 2012 für die Mailänder Scala übernommen, bevor Berlin drankam. Nur: »Romeo und Julia« war 1595 neu, die eigensinnige Berlioz-Sinfonie mit Chor und Solisten wurde 1839 erstmals umjubelt. Ist nicht trotzdem jeder Theaterabend, ob gesprochen, gesungen oder getanzt, neu? Die Lust und Befriedigung jedenfalls, eine gelungene Arbeit wieder einmal frisch zu präsentieren, teilte sich in der Deutschen Oper spürbar mit.

Sasha Waltz hat die sehr spezielle Form der Sinfonie choreografisch sozusagen millimetergenau ausgefüllt. Die verfeindeten Clans der Montagues - strenges Schwarz - und Capulets - opulentes Weiß - während der Orchestereinleitung: So ritualisiert wie rasend zerteilen sie die Luft mit ihren messerartig hackenden Unterarmen, sie tauchen auf, verschwinden, rennen über die Bühne, berühren einander nie, beginnen nichts, beenden nichts. Feindschaft als leere Lebensform. Schließlich erzwingt der Fürst von Verona Beruhigung, und der Chor erzählt in einem langen Prolog die ganze Geschichte der Liebenden bis zu ihrem tragischen Ende.

Anekdotisches, Reflektierendes schiebt sich ein. Der Tenor Thomas Blondelle gesellt sich tanzend mit seinem Scherzetto über die Traum-Königin Mab zur Compagnie; Ronnita Miller - eine silberblau gewandete Königin im Mahalia-Jackson-Format - preist mit seidigem Mezzo die Schönheit der jungen Liebe und Shakespeare, der sie unvergleichlich zu beschreiben weiß. Die Tänzer fügen währenddessen fast architektonische Körper aus ihren Leibern, lösen sich sofort wieder voneinander, bilden neue Formen, lassen kollektive Organismen entstehen, heben so Fehde und Liebesgeschichte assoziativ ineinander auf.

Die tatsächliche Liebesgeschichte vertraut Berlioz im zweiten Teil seiner Sinfonie allein dem Orchester an. »Die Erhabenheit dieser Liebe«, erklärte Berlioz sein Vorgehen, habe ihn gezwungen, »zur Instrumentalsprache« zu greifen, »die reicher, mannigfaltiger, weniger gebunden und durch ihre Unbestimmtheit unvergleichlich mächtiger ist«. Romantisches Musikideal pur; Wagner war begeistert, als er »Roméo et Juliette« in Paris hörte.

Donald Runnicles und das Orchester der Deutschen Oper waren Berlioz’ allerbeste Anwälte. Farbenreiche Melodieströme, schöne Holzbläsermischklänge, die Harfe im Zusammenklang mit tiefen Holzbläsern, luftiger Schwung der Streicher bildeten die schönen Details. Dämonische Farben rauschten im Walzer einer Ballnacht vorüber, elegische Naturbetrachtungen wechselten mit koboldhafter Feenmusik. Runnicles ließ die leitmotivischen Elemente transparent werden, konzentrierte sich aber auf die je spezielle Farbe der einzelnen Episoden dieser Programm-Sinfonie.

Nichts anderes war tänzerisch dazu möglich, als das gute alte Handlungsballett. Sasha Waltz fand gerade hier Tanzfiguren von perfekter psychologischer Evidenz. Wie witzig, wenn sich die im Tutu tanzenden Mädchen steifbeinig beim Ball heben ließen, wie wohlbekannt, wenn alle müde taumelnd das Fest verlassen, wie sympathisch, wenn der verliebte Romeo und seine Freunde der Königin Mab huldigen. Als Höhepunkt der Pas de deux des Liebespaares: innig, aber gar nicht kindlich Yael Schnell, sehr jünglingshaft Joel Suárez Gómez. Spielerisches Necken, einander Umschlingen und immer in einer Berührung bleiben, Symmetrie selbst in sekundenkurzen Trennungen, eine Figur sehnsuchtsheischender, sehnsuchtsbefriedigender als die andere. Musik und Tanz gingen scheinbar ineinander über - wie weise Berlioz’ Entscheidung, hier niemanden singen zu lassen. Ganz verstummt die Musik, wenn Romeo allein gegen Wände anrennt, wenn er sich rasend ausstreicht aus den zum Buch aufgeschlagenen zwei Ebenen des genial einfachen Bühnenbilds, Verzweiflungstanz in der Stille.

Am Ende noch einmal der Chor und der nachdrücklich zum Frieden mahnende Pater Lorenzo. Der kraftvoll tanzende Orlando Rodriguez und der phänomenale Bass Nicolas Courjal, ebenfalls tanzend, steigerten sich gegenseitig in ihrer Eindringlichkeit.

Vergessen wir Sasha Waltz’ unglückliche Einmischung in den »Tannhäuser« an der Staatsoper, erinnern wir uns an ihre legendäre Opern-Choreografie zu »Dido und Äneas« und genießen wir »Romeo und Julia«.

Nächste Vorstellungen: 20., 22., 28., 29. April; 2. Mai