Keine Zukunft ohne die Toten

Münchner Kammerspiele: »Buch (5 Ingredientes de la vida)« von Fritz Kater und Armin Petras

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Gern verbindet der Mensch das Datum seiner Geburt mit der leichtfertigen Behauptung, er sei zur Welt gekommen. Als ginge das so schnell. Als dauere dies nicht lebenslang. Als stehe nicht fortwährend die Frage, wie man zur Welt und gleichzeitig zu sich selbst kommt. Durch die Welt hindurch? An ihr vorbei? Zur Welt zu kommen heißt, zur Vernunft kommen zu müssen - die dir unerbittlich dein traurigstes Talent auf Erden klarmacht: zu kurz zu kommen.

Leben hat Bestandteile. Eine ewige Fortpflanzung des immer Gleichen. Utopie, Fantasie, Liebe und Tod sowie Instinkt, Sorge - das sind für den Regisseur Armin Petras, der als Autor Fritz Kater heißt, entscheidende Ingredienzen im Buch des Lebens. Ursachen dafür, dass Blut in Wallung kommt oder sogar Blut fließt. Themen, um die alles kreist. Im Freundeskreis, im Friedenskreis, im Teufelskreis. Der Stoff, aus dem das Verstehen und das Missverstehen erwachsen, das Schlichtende und das Schlachtende - im Umgang miteinander, auf der Weltbühne, in der Wohnung. »Buch (5 Ingredientes de la vida)« heißt das Stück, das Petras in der Spielhalle, einer Nebenstelle der Münchner Kammerspiele, inszenierte (Bühne: Volker Hintermeier). Episoden um die benannten Ingredienzen. Short Cuts. Datiert zwischen 1966 und 2013.

Dabei auch: Szenen aus dem Osten. Durch die geistert Ernst, der ewige alte Genosse, einst Streiter für den »neuen Menschen«, nun zusammengesunken ins körperlich Erledigte. Einst geschichtstrunken, jetzt nur noch besoffen. Erst revolutionär, jetzt stationär. Ach, was so einer in den wechselnden Klassenkämpfen sich alles hat merken und wieder hat vergessen und verdrängen müssen - um wieder zu lernen und dann aufs Neue wegzuwerfen. Sich zuallererst. Auf den Müll? Lange nannte der sich, o Glück der Selbstlüge: Parteilichkeit. Nun verwittert man einsam im Plattenbau. Freilich trotzdem mit einer Hoffnung: »Die Zukunft funktioniert nicht ohne die Toten.« Bis zuletzt: kleben am Sinn.

Diesen Ernst spielt - Ursula Werner. Spielt ihn herzergreifend. Im braunen Anzug eine bieder-traurige Abgeschabtheit. Das Frauenhaar straffgezogen, und erst weit hinten, am Hals, darf es auslocken, sich lockern, sich ausloggen aus der Strenge - als sei es ein trotziges äußeres Zeichen jenes Ungestümen, das dieser Mensch in Spuren vielleicht noch im Hinterkopf hat. Dieser gesottene Genosse, vom Jahrhundert verbraucht, von Arbeit gestaucht, von Erfahrung geschlaucht. Die Werner taucht eine Mannsgestalt mit erschütternder Genauigkeit ins erkennungsdienstliche Licht: Die Schalen einer männlichen Verkarstungsnot platzen weg; ein gehärteter Funktionär offenbart seine Angreifbarkeit, all seine weichen Untergründe. Ursula Werner umschleicht schildkrötenlangsam die Jüngeren: Referatspapiere noch immer unterm Arm, schaut ihr Ernst verdämmernd aufs fortlaufende Leben. Petras schildert das Erwachen der Jungen in dieser seltsamen Unwirklichkeit DDR, spielt Rackerei und Rausch nach - wie improvisiert wirken die flirrenden Choreografien zwischen erster Liebe und erstem Leid. Das DDR-Leben, einzig nur Tendenz? Nein, auch tender (love me!) und Dance. Berauschte Biologie gegen vorbeirauschende Ideologie. Wie Becketts Krapp murmelt Genosse Ernst letzte Worte vor sich hin, die Luft eines Ventilators bewegt dazu Tonbänderfetzen, und die ergeben einen Ton, als rausche Regen. Das Petras-Theater ganz bei sich: Minimalismus - höchste Wirkung. Wenn dieser Ernst Blut hustet, greift die Werner in die Jackentasche, hält sich die Hand dann vor den Mund, öffnet sie, und ein Schwall roten Konfettis flimmert zu Boden. So, wie ein Spieler eine Plastetüte mit Wasser auskippt, und fertig ist der Badesee. Als bemächtige sich das Theater noch einmal der verschwundenen Mangelgesellschaft, deren wichtigster Zufluss die Phantasie war: sich aus allem nichts machen - aber aus nichts alles machen.

Für Petras ist die Bühne eine quirlige, überdrehte, improvisierende, rasende, kindliche Spielbude. Er bleibt ein Meister des flinken Unfertigen, dem die Traurigkeit kostbare Schattenflecke auf Lichtungen der Clownerie zaubert. Gefragt, ob der 1965 im Westen Geborene - mit den Eltern in den Osten Übergesiedelte, später wieder Ausgereiste - in der DDR unglücklich war, hat er gesagt: »Natürlich. Es war meine glücklichste Zeit.« Der Schmerz als Motor für Geist und Gemüt. Was ihn nunmehr schmerzt am Osten, sagt eine der Gestalten des Stücks so: Nicht, dass die Westler kamen, besiegelte unsere Niederlage, sondern dass wir so wurden wie sie.

In einer anderen DDR-Szene gibt Ursula Werner gemeinsam mit Thomas Schmauser ein Kinderpaar (Kindlichkeit ohne Peinlichkeit) - Geschwister auf einem winterlichen Bahnhof Berlins, auf die Mutter wartend, die nicht kommen wird: abgehauen in den Westen. Der Vater im Krankenhaus. Quer durch die Halle sprechen Bruder und Schwester miteinander; ein Rufen wie ein Pfeifen im Wald; der Junge fragt und fragt, die Schwester erzählt und erzählt - wer erzählt, vertreibt Ängste, selbst wenn die Rede von bösesten Dämonen geht. Wir Zuschauer stehen wie Verlorene unter sternenlosem Himmel, im tiefdunklen Raum, stehen da etwa eine halbe Stunde, hatten eben auf vier Leinwänden vier Wissenschaftler über Utopien faseln hören, über eine Welt der planetaren Exile und über den im Netz-Werk gefangenen Menschen, dem mehr und mehr die Körperlichkeit entzogen wird. Träumerisches Denken als eine wahnwitzige, weit greifende Kalkulation aus gesteigerten Kältegraden - aber plötzlich ist der tränenheiße Wunsch zweier Kinder, ihre Mutter wiederzusehen, die unerreichbarste der Utopien. Was alle Welt zusammenhält, dem sind wir schneller auf der Spur als den Gründen, warum eine einzige Seele auseinanderreißt. Und deshalb zerreißt es auch immer wieder die Welt.

Wir sitzen, nach besagtem ersten Teil, nun längst auf Bänken. Eine der gewaltigsten, gewalttätigsten Episoden: Eine afrikanische Elefantenkuh (Svenja Liesau) erzählt den Roman ihres Lebens (ein Text ohne jede vermenschelnde Didaktik oder Rührseligkeit); eine schwitzende, schwungwilde Hymne auf Ursprünge - Max Simonischek, Edmund Telgenkämper und vor allem Svenja Liesau werfen sich in einen explosiven Körperkampf; Lederjacken klatschen auf den Boden, als würde Elefantenhaut gepeitscht; ein exakt zügelloses Drunter und Drüber, ein nahezu dampfendes Auf- und Übereinander aus Sex und Chaos, eine schreiende Klage gegen den massakrierenden Menschen, der in »Schraubenfliegern aus Eisen« Leben und Refugien zerstört - der Tier-Traum vom friedvoll »stillen Land« ist am Ende höchstens noch denkbar als Existenz im Zoo, den Heiner Müller »die kulturvollste Form des KZ« nannte.

Den Schlusspunkt setzt die Episode »Sorge«. Ein Paar unter unerträglichem Druck: Der Säugling droht an einer Immunschwäche zu sterben. Der Vater weit weg, die Mutter am Krankenbett. Telefonate des Entsetzens. Tobende oder traurig sprachlose Ungespräche. Eintauchen in Erinnerungsfetzen, als suchte man in der Vergangenheit, was der gefährdeten gemeinsamen Zukunft Halt geben könnte. Thomas Schmauser ist der hysterisch flatternde, brüllend unglückliche, tapsig ungeschickte Ehemann, der in seinen Egoismen wie in einem Labyrinth umherirrt, und Anja Schneider, diese besondere Schauspielerin aus dem Grenzland von Schmiegsamkeit und Kühle, gibt eine einschneidend leidende Ehefrau. Der durchdringende Blick einer zutiefst Zeropferten; das beinahe bewegungslose Vibrieren einer gebeugten Mutter, der die Krankheit des Kindes gleichsam in den eigenen Körper wächst.

Petras offenbart uns vier Stunden lang die räuberische Lust des Theaters. Da ist Spiel, da ist Musik (live bietet Miles Perkin einen sehnsüchtig ziehenden Guitarsound, eine elegische Stimmkraft und hämmerndes Schlagzeug), da ist Video, und da ist Installation (ein Mammut mit Metallrippen gerät zum Klettergerüst und gleichsam zum Zellenparcours mit Lichteffekten). Und vor allem ist da ein Text, der begierig den Wunsch auslebt, so jetzig zu sein wie auch Gleichnis. Dafür verzeiht Petras seinem Autor Kater auch mal Aufgeplustertes, Banalität, fehlende Verdichtung. Aber bravourös wird aller Spieltrieb in die Waagschale geworfen, um dich, Zuschauer, ins Gespräch zu locken, in die Bedrängung, in den Widerspruch, der von Unvollkommenheiten ausgeht. Und vom Willen, Glück und Unglück so anzusprechen, so auszusprechen, dass beider Nähe zueinander ebenso fasslich wird wie beider Unvereinbarkeit.

Nächste Vorstellungen: 22., 27. April

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