nd-aktuell.de / 24.04.2015 / Politik / Seite 2

Die Demütigung der Opfer setzt sich fort

Die Turkologin Corry Guttstadt erkennt eine allenfalls schleppende Aufarbeitung des Unrechts

nd: Der Völkermord löschte die armenische Bevölkerung im Gebiet der heutigen Türkei weitgehend aus. Gibt es noch eine lebendige armenische Gemeinschaft in der Türkei?
Heute gibt es schätzungsweise 60 000 Armenier in der Türkei, Tendenz fallend. Sie leben fast ausschließlich in Istanbul, wo es mehrere armenische Schulen, die beiden armenischen Tageszeitungen »Jamanak« und »Marmara« sowie die Wochenzeitung »AGOS« und etwa 30 armenische Kirchen gibt, wenn man dies als Gradmesser einer »lebendigen Gemeinschaft« ansehen möchte. Aber in Anatolien und insbesondere in dem ehemaligen armenischen Hauptsiedlungsgebiet in Ostanatolien leben so gut wie keine Armenier mehr. Das ist nicht allein eine Folge des Genozids.

Wie der Titel meines Buches »Wege ohne Heimkehr« zum Ausdruck bringt, gab es nach dem Völkermord auch für die überlebenden Armenier keine »Heimkehr«: Muslime hatten ihre Häuser und ihren Besitz beschlagnahmt. Mehrere Erzählungen in dem Band bringen das deutlich zum Ausdruck: Hagop Mintzuri bezeichnet seine Situation in Istanbul als das Leben »einer Geisel«, und die Großmutter »Garine« in der Erzählung Karin Karakaşlis hat nur durch Konversion zum Islam überlebt und ihre armenische Identität bis zum Tode verborgen.

Wie sieht die rechtliche Stellung der nichtmuslimischen Minderheiten und besonders die der armenischen Gemeinschaft aus?
Formalrechtlich gesehen sind die Armenier der Türkei Staatsbürger des Landes und genießen die gleichen Rechte wie muslimische Türken, also z. B. auch den Anspruch auf Schutz durch die staatlichen Organe. Außerdem sind ihre Rechte als Minderheit - also auf Unterhalt eigener Schulen und Gemeindeeinrichtungen, Gebrauch der eigenen Sprache usw. - juristisch festgeschrieben. In der Realität hat die Politik der Türkei von Beginn an unterschieden zwischen »echten« (muslimischen) Türken und den nichtmuslimischen Bürgern der Türkei. Armenier und andere Nichtmuslime waren im Alltag zahlreichen Diskriminierungen und Beschränkungen unterworfen. Bis heute ist ihnen z. B. im Staatsdienst oder in der Armee ein Aufstieg verwehrt.

Anstatt das Leben der - nichtmuslimischen - Bürger zu schützen, sind es immer wieder Politiker und staatliche Stellen, die den Hass gegen Armenier schüren und die Aufklärung von Gewalttaten wie dem Mord an dem armenischen Publizisten Hrant Dink verschleppen.

Welche Auswirkung hat die Politik des türkischen Staates, den Genozid zu leugnen, auf die Armenier in der Türkei?
Ich denke, man muss zunächst grundsätzlich festhalten, dass die fortgesetzte Leugnung einen aggressiven Akt bedeutet, eine permanente Fortsetzung von Demütigung und Kränkung der armenischen Opfer und ihrer Nachfahren.

Zudem beschränkt sich die Leugnung nicht auf ein Abstreiten oder eine Relativierung von Fakten, sondern Armenier werden weiterhin als »Feinde und Verräter« bezichtigt, wobei nun auch die Forderung der Anerkennung des Völkermords vor allem von Armeniern außerhalb der Türkei als weiterer Beweis ihres »Verrats« gewertet wird. Begleitet wird dies durch die Kontinuität antiarmenischer Propaganda und Taten seitens großer Teile der türkischen Gesellschaft und der politisch Verantwortlichen.

Hat sich die Lage der Armenier unter der aktuellen Regierungspartei Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) verbessert oder verschlechtert? Gibt es inzwischen Bestrebungen, die ethnische und religiöse Pluralität der türkischen Gesellschaft anzuerkennen und zu fördern?
In ihren ersten Regierungsjahren hat die AKP eine Reihe Reformen durchgeführt, die unter liberalen Intellektuellen sowie unter Angehörigen der Minderheiten Hoffnungen auslösten. Ein Gesetz von 2011 sieht die Rückgabe des Eigentums der christlichen und jüdischen Stiftungen an diese vor. In der Praxis verläuft die Rückgabe jedoch äußerst schleppend und wird von staatlichen Stellen immer wieder behindert oder boykottiert. In ihrer Rhetorik propagiert die AKP das »Zusammenleben der verschiedenen ethnischen und religiösen Gemeinschaften«, das zu osmanischen Zeiten angeblich so friedvoll war. Gleichzeitig ist die Ideologie der AKP nicht nur islamistisch, sondern auch nationalistisch: Es war der AKP-Bildungsminister, der die antiarmenische Propaganda in den Schulunterricht brachte.

Die Lockerungen, die wir in der Türkei erleben - z.B. dass die Bezeichnung des Völkermords als Völkermord nicht mehr zur Strafverfolgung führt, ein gestiegenes Interesse am Schicksal der Armenier in Teilen der Zivilgesellschaft usw. - sind ein Erfolg dieser Zivilgesellschaft, des unerschrockenen und unermüdlichen Engagements von mutigen Publizisten und Menschenrechtsaktivisten. Hrant Dink hat dafür mit seinem Leben bezahlt.