»Je sechs hodin ...« - Es begann um sechs Uhr

Der Prager Aufstand und die letzte militärische Operation der Roten Armee. Von Karl-Heinz Gräfe

  • Karl-Heinz Gräfe
  • Lesedauer: 3 Min.

In den letzten Kriegswochen ging es Schlag auf Schlag - wenngleich unter großen Opfern. Am 13. Februar 1945 wurde Budapest befreit, am 4. April Bratislava, Wien wurde am 13. April eingenommen und und Brno am 26. April. Über zwei Millionen Soldaten dreier sowjetischer Fronten und zweier polnischer Armeen trieben die deutsche Wehrmacht vor sich her, eroberten in der zweiten Aprilhälfte das nördliche Ostsachsen, Brandenburg und Mecklenburg. General Helmuth Weidling, der sich bis zuletzt einer Kapitulation verweigernde Befehlshaber des Verteidigungsbereiches Berlin, begab sich am 2. Mai, um sechs Uhr früh, in sowjetische Gefangenschaft.

Die anglo-amerikanischen Verbände waren derweil bis Schwerin, Magdeburg, Leipzig, Chemnitz und Eger (Cheb) vorgestoßen. Rotarmisten und GIs trafen sich nicht nur bei Torgau an der Elbe. Bei Dresden und Görlitz sowie im Protektorat Böhmen und Mähren stand jedoch noch die Heeresgruppe Mitte unter dem Kommando von Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner; sie zählte eine Million Mann, 1900 Panzer und 9700 Geschütze.

In Tschechien hatten sich starke antifaschistische Kräfte unter Leitung des Tschechischen Nationalrates formiert, angeführt von Professor Albert Prazak und vom Kommunisten Josef Smrkovsky. Am 30. April leiteten sie den Aufstand um die Befreiung der seit März 1939 unter deutsch-faschistischem Joch stöhnenden Heimat ein; sie wollten auch die Hauptstadt aus eigenen Kräften befreien.

»Je sechs hodin.« Es ist sechs Uhr. In einem deutsch-tschechischen Sprachenmix eröffnete Radiomoderator Zdeněk Mančal am 5. Mai die Sendung. Das war das Signal zum Aufstand in Prag. Der deutsche Intendant Ferdinand Thürmer forderte sogleich Soldaten an, die im Sender auf heftige Gegenwehr der Widerstandskämpfer trafen. Der Gefechtslärm war über das Radio zu hören, woraufhin Prager Bürger auf die Straßen eilten, die Aufständischen zu unterstützen. Sie errichteten Barrikaden, rissen deutsche Schilder ab, hissten tschechoslowakische Fahnen. 30 000 Aufständische besetzten die Moldaubrücken sowie das Post- und Telegrafenamt. Ihnen standen am westlichen Moldauufer 7000 Wehrmachtsangehörige gegenüber, aus dem Prager Umfeld griffen 10 000 Mann der Waffen-SS an. Ihr Befehlshaber, SS-Gruppenführer von Pückler, drohte, »jeglichen tschechischen Widerstand mit allen modernen Kriegsmitteln zu zermalmen« und das aufständische Stadtzentrum mit Spreng- und Brandbomben dem Erdboden gleichzumachen. Daraufhin wandte sich der Nationalrat in der Nacht zum 6. Mai über den Rundfunk an die Alliierten: »Die Deutschen greifen Prag von allen Seiten mit Panzern, Artillerie und Infanterie an, Prag braucht dringend Hilfe, schickt Flugzeuge, Panzer und Waffen. Helft, helft so schnell ihr könnt.«

Der Oberste Befehlshaber der Alliierten in Westeuropa, General Dwight Eisenhower, war von Harry Truman, Nachfolger des gerade verstorbenen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, sowie dem britischen Premier Winston Churchill aufgefordert worden, Prag möglichst vor der Roten Armee einzunehmen. Dementsprechend teilte er am 4. Mai 1945 dem sowjetischen Generalstab mit, einen Angriff mit dem Ziel einzuleiten, Pilsen, Budweis und Karlovy Vary einzunehmen und dann nach Prag vorzudringen. Das durchkreuzte Stalins Pläne. So kam es in Prag, im Gegensatz zu Berlin, tatsächlich zu einem Wettlauf der Alliierten.

Die sowjetischen Streitkräfte eröffneten einen Tag eher als geplant, am 6. Mai, ihre Operation zur Unterstützung des tschechischen Nationalaufstandes. Das V. Korps der US-Armee nahm zwar am 5. Mai noch Pilsen ein, entwaffnete aber die dortigen Aufständischen. Am 8. Mai, am Tag, als in Berlin-Karlshorst die Kapitulationsurkunde unterzeichnet werden sollte, überquerte die Vorhut der Gardepanzerarmeen der Sowjetgeneräle Rybalkos und Leljuschenkos die Erzgebirgspässe und rollte am 9. Mai gegen vier Uhr morgens in Prag ein. Schörners Vorhaben, die Heeresgruppe Mitte geschlossen der US-Armee zu übergeben, scheiterte. 859 900 deutsche Soldaten und Offiziere (darunter 60 Generäle) mussten sich in sowjetische Gefangenschaft begeben. 12 000 Rotarmisten, polnische, tschechische und rumänische Soldaten sowie 10 000 Aufständische kamen in den Kämpfen um Prag, die letzte Schlacht des Krieges, die noch bis zum 11. Mai 1945 andauerte, ums Leben.

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