Das gezeichnete Ich

Retrospektive des Künstlerpoeten Gerhard Altenbourg im Berliner Kupferstichkabinett

  • Klaus Hammer
  • Lesedauer: 4 Min.

Gerhard Altenbourg, der vor 25 Jahren - wenige Wochen nach dem Fall der Mauer - tödlich verunglückte, ließ sich vom Spiel der Formen und Farben tragen, um in deren Verlauf durch raffinierte Technik einzugreifen - mit feinen Marderhaarpinseln gepünktelt und gestrichelt, mit Feder, Tusche, Teeaufguss, gewaschen, d.h. auf dem Papier zerfließend, mit Kreide und Gouache. Er erfand Strukturen im Ungeformten, und das Ungeformte selbst richtet sich in bestimmten Strukturen ein. Die menschliche Figur ist selbst eine Struktur und Strukturen unterworfen, die er immer wieder neu erfindet.

Sehr früh ist der Künstler mit seinen visuellen Bildgedichten im Westen bekannt geworden, während er im Osten, misstrauisch von der offiziellen Kulturpolitik beargwöhnt, noch lange Zeit als Geheimtipp unter Kunstkennern galt. Erst zu seinem 60. Geburtstag, 1986, fanden größere Retrospektiven in der DDR statt.

Das Berliner Kupferstichkabinett, das selbst über erlesenen, aber kleinen Altenbourg-Bestand verfügt, konnte im vergangenen Jahr mit Unterstützung der Ernst von Siemens Kunststiftung und der Kulturstiftung der Länder die Privatsammlung von Solgärd und Rolf Walter, Stockholm, erwerben und stellt jetzt eine repräsentative Gesamtschau von über 110 Aquarellen, Zeichnungen und Graphiken aus vier Jahrzehnten seines Schaffens (1948-1989) vor. Die Kuratorin Anita Beloubek-Hammer hat den Titel »Das gezeichnete Ich« dem vom Künstler hochgeschätzten Dichter Gottfried Benn entlehnt. Es geht um das fremde wie das eigene Ich, mitunter fallen beide zusammen, dann aber auch wieder trennen sie Welten voneinander.

Die Ausstellung, gegliedert in Schaffensphasen, die jeweils mit der Zuwendung zu neuen Medien und Techniken verbunden sind, eröffnet durch versetzte Stellwände immer wieder neue Blickpunkte, bietet immer wieder neue Überraschungen, so dass der Betrachter in einen spannungsvollen Prozess einbezogen wird.

Überdimensional die frühe Zeichnung »Ecce homo« (1950), ein metaphorisches Selbstbildnis, das die ganze innere Zerrissenheit des jungen Künstlers zum Ausdruck bringt, den die traumatischen Kriegserlebnisse als Wehrmachtssoldat sein ganzes Leben lang verfolgt haben. Mit Wunden und Narben hat er sich dargestellt, sein Innerstes bloßgelegt. Wie der Silen Marsyas ist er enthäutet, oder wie der Künstler sagt, »geschält, entschalt, gezeichnet, abgezogen, nageldurchbohrt, ein Blick in das Labyrinth, dem wir so gern eine Maske anlegen …« Im Umkreis entstanden schreiende oder verstummte Narrenköpfe, anklagende Manifestationen »Mein Bruder, das fraßlüsterne Schwein« oder »Meine Schwester, die Hure« - in der menschlichen Bestie ist immer auch die leidende Kreatur enthalten, Täter und Opfer sind mitunter ein und dieselbe Person.

1949/50, noch als Student an der Weimarer Hochschule für Baukunst und Bildende Künste, von der er dann wegen »gesellschaftlichen Außenseitertums« exmatrikuliert wurde, entstehen in einem »Werkstattrausch« Lithografien mit Figuren und Köpfen, die von der Psychoanalyse beeinflusst sind: Surreales, Tragisch-Groteskes, verquere Sexualität, Satire und Angstträume, Figurationen zwischen Mensch und Tier. Die psychische Wirklichkeit überströmt die äußere Realität mit unaufhaltsamer Intensität. Seine »Einstellung zur Welt« habe er gestalten wollen, bekannte der Künstler. »Stalins Geburtstag« (1950, Lithokreide) ist eine martialisch gezeichnete Personifikation des sowjetischen Diktators - und eines der wenigen seiner politischen Themen.

1958 aus Weimar nach Altenburg zurückgekehrt, wollte der Künstler ein Kunstwerk nicht nur aus seinen Arbeiten, sondern auch aus seiner Person, seiner künstlerischen Handschrift und seinem Lebensraum (Haus und Garten) schaffen. Mit der Farbe gesellen sich nun auch Landschaften hinzu, die er auf meist nächtlichen Wanderungen im Altenburger Land erkundete (nachts erscheint alles mehr als eine Zeichnung, bekennt er). Das von Pappeln umsäumte Gelände »An der Hellwiese« (1955, Aquarell, Tusche, Kreide) - übrigens die erste von Rolf Walter als Unikat erworbene Arbeit - konnte er vom Fenster seines Arbeitszimmers in der Ferne sehen.

Seit 1959 wandte sich der Künstler dem Holzschnitt zu, er experimentierte mit teils primitiven Mitteln und schuf dabei aufwendig kombinierte Farbholzschnitte mit Landschaften, grotesken Szenen und skurrilen Figurationen von feinsinniger Ironie. Kurz darauf kehrte er zur Lithografie zurück, nun schätzte er die silbrigen Töne, die nuancenreichen Abstufungen des Grau, die »Erschmeichelung des Grau«, wie Altenbourg sagte. Seit 1981 sind dann auch Radierungen entstanden, von äußerster Zartheit und voll köstlicher Erotik. Seine letzte grafische Edition ist die »Schnepfentaler Suite«, eines von nur zwölf Exemplaren besitzt das Kabinett.

Seine Köpfe, Landschaften und szenischen Darstellungen - die zentralen Motive Altenbourgs - entwickeln sich in langwierigen Prozessen, sie verflechten, verspinnen, verdichten und ordnen sich, sie weiten sich aus zu vielschichtigen, verschlüsselten, assoziativen »Seelenlandschaften«. Die Köpfe, von Liniengespinsten umwuchert, Phantasie-Porträts, Bildnisse aus Tagträumen, aber wohl auch verkappte Selbstporträts, verweisen auf die Brüchigkeit menschlicher Existenz. Physiognomisches ist mit Landschaftlichem verwoben. Viele Köpfe sind nichts anderes als anthropomorphe Landschaften, in denen sich Untergründiges offenbart. In den durchsichtigen, poetisch verwobenen, klein- und feinteiligen Landschaftsdarstellungen aus kostbarer Farbigkeit ist offensichtlich Thüringen mit den Wiesen, Wäldern und sanft schwingenden Hügeln zu erkennen, aber die zarten, tastenden Linien beziehen auch die Dimension des Unsichtbaren mit ein, Projektionen des Inneren, geologische Schichten. Der Schriftsteller und langjährige Freund Altenbourgs, Erhart Kästner, hat sogar von der »Entdeckung des Unterbewussten der Landschaft« gesprochen.

Gerhard Altenbourg: Das gezeichnete Ich. Werke aus einer schwedischen Privatsammlung und dem Kupferstichkabinett, Di-Fr 10-18, Sa/So 11-18 Uhr, bis 7. Juni. Katalog 22 Euro.

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