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  • Stephan Fischer
  • Lesedauer: 3 Min.

Weißensee ist schön verschlafen. Seit hundert Jahren wartet man hier vergeblich auf die U- oder S-Bahn, dafür gibt es viele schöne Friedhöfe. Ganz dicht am größten jüdischen in Europa wohne ich. Und wenn der Wind günstig steht, riecht es nach Bier: Das VEB Getränkekombinat grüßt. Definitiv nichts für die digitale Boheme, selbst Spammails bringt hier noch der Briefträger. Neulich erst: »Asylmissbrauch stoppen!« bellt mich eine Postkarte an. »Pro Deutschland«, deren Speerspitze auch schon einmal zu dritt das »nd« beehrte, informiert mich, dass Wirtschaftsflüchtlinge das Asylrecht aushöhlen.

Ich sehe in meiner Gegend eigentlich wenig von ihnen - außer beim Blick in den Spiegel. Will aber gar nicht schon wieder von Steuerflüchtlingen vertrieben werden, die mit ihrem Schwarzgeld alle Baulücken zubauen und aus ganz normalen Häusern »exklusive Szenegeschosse in angesagten Dachbezirken« machen wollen. Ist aber auch kompliziert.

Weg mit der Karte in den Spamordner, ein Karton, mit »Zu verschenken« beschriftet. Hilfe für die komplizierten Fragen des Lebens naht eine Woche später, wieder per Post. »Wir nutzen nur zehn Prozent unseres geistigen Potenzials«, verkündet mir Albert Einstein auf einer quietschbunten Karte. Donnerwetter, wenn der nur zehn Prozent nutzte, nicht auszurechnen, was aus dem Mann hätte werden können! Aber ich könne jetzt an die restlichen 90 Prozent kommen, schreibt mir eine gewisse Diane Tik. Dafür bräuchte ich nur den »Leitfaden für den menschlichen Verstand« von L. Ron Hubbard.

Mmh, ein Hörbuch für 37 Euro? Auf Kassetten gar?!? Andererseits hat Hubbard in den 50er Jahren mal ein Gerät erfunden, das den Schmerz von Tomaten beim Aufschneiden misst - nimm das, Einstein! Der Scientology-Gründer war schon ein echter Tausendsassa - und ein Historiker obendrein: Vor 75 Millionen Jahren gab es schon einmal eine Zivilisation, erkannte Hubbard in den 60er Jahren - voll Menschen, »die in Kleidern herumliefen, die den Kleidern, die sie am heutigen Tag tragen, bemerkenswert ähnlich sind«. Sie fuhren in Autos, Zügen und Schiffen, die genau so aussahen wie die »circa 1950, 1960 auf der Erde«. Hat sich also nicht viel getan - genau wie in meinem Haus, ein Altneubau, frühe 60er. Auch meine Nachbarn tragen Kleider, die denen der 60er »bemerkenswert ähnlich« sind - von Szenegeschossen keine Spur. Aufbaugeneration halt, seit 25 Jahren leider eher mit Abbauen beschäftigt. Ob ich da nicht weg will und lieber was aufbauen wolle, fragt mich vor ein paar Tagen die vorerst letzte Postkarte: Baudarlehen, Niedrigzinsphase, was Eigenes wie das Jodeldiplom ... - aber ich kann hier nicht weg. Diane Tik hat immer noch keine Kassetten geschickt. Ich bin stinksauer. Und würde ihr doch glatt ein Baudarlehen spendieren. Da kann sie dann mit den Pro-Deutschland-Typen eine Kommune aufbauen und in 60er-Jahre-Kleidern 75 Millionen Jahre tanzen. Oder zehn Prozent davon. Vielleicht schicken sie ja mal eine Karte. Im Spam-Karton ist noch genug Platz.

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