Ein Kristall, der leicht zerbricht

Bekannte und neue Aufnahmen zum 100. Todestag des Komponisten Alexander Skrjabin

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 5 Min.

Positiva beseelen seine Musik. Sentimentalitäten à la Tschaikowsky kennt Alexander Skrjabins Musik so wenig wie den Schrei der Kreatur, deren Leid und Tragik. In Skrjabins Welt wohnt stattdessen die verwickelte, vom Göttlichen beküsste »Komödie«, welche die Düsternis und den Jammer eines Tschaikowsky nicht braucht. Skrjabins Musik, nicht alle, ist freudig und lichtvoll. Und wo sie das nicht ist, herrscht ekstatischer Geist. »Seine Musik springt, fliegt und tanzt«, wie ein Kritiker der 20er Jahre einmal sagte, »und wo man Kampf, Mühe und leidenschaftlichen Aufschwung antrifft, sind es nur göttliche Spiele.«

Das mag simpel klingen, es markiert dennoch ästhetische Wesenszüge des Russen. Besonders die Klaviersonate Nr. 4 und das geradezu revolutionär wirkende, heutigen Podien allemal vertraute Orchesterwerk »La Poéme de l’Extase« führen sehr ohrenfällig diese positiven, den »unendlichen Aufstieg der schöpferischen Tätigkeit« (Skrjabin) ausdrückenden Turbulenzen mit. Denn Alexander Skrjabin ist ein Suchender. Die Neuerung ist vornehmlich seinen späten Instrumental- und Klavierwerken eingeschrieben. Jene groß besetzte »Prometheus«-Musik (1909/ 10) etwa mit ihren verminderten Quinten und übermäßigen Quarten (Tritonus) verrät gestalterische Ähnlichkeiten mit Schönbergs 1. Kammersymphonie (1906), obwohl beide Werke völlig unabhängig voreinander entstanden. Nicht minder erstaunlich Skrjabins parallele Erfindungen zwölftöniger Melodien und Akkordkomplexe. Angesichts solcher Vorstöße hielten ihn Zeitgenossen für einen Narren, schimpften ihn einen Dekadenten, mitunter gar einen Scharlatan. Das verschwand dann.

Klaviermusik gehört zum Glutkern seines Schaffens, darin ist die Sonate das wichtigste, auch innovativste Element. Die zehn Sonaten, die vorliegen, komponierte er trotz Beethoven, Schubert, Chopin und Liszt. Allesamt Produkte seiner Überzeugung, Großes, die Zeiten Überdauerndes kreiert zu haben. Skrjabins Sendungsbewusstsein, von mystischen Aufflügen himmelwärts gepackt, stieg bisweilen ins Unermessliche. 1906 schreibt er an seine Gönnerin Margerita Kirillowna: »Es wird die Zeit kommen, dass jeder Mensch (nicht nur Freund) von einem Pol zum anderen galoppieren wird, um eine Pause aus meinem Schaffen zu hören.« Nun, das dürfte dauern, die geschichtlichen Uhren laufen langsam.

Skrjabin kommt am 6. Januar 1872 in Moskau zur Welt. Sein Vater ist Diplomat, seine früh verstorbene Mutter Pianistin. Die Disziplin eines Kadettenkorps, das er absolviert, muss dem jugendlichen Freigeist arg zugesetzt haben. Am Moskauer Konservatorium studiert er Komposition bei Arenski und Tanejew. Hochbegabt - ausgezeichnet sein Gehör und Gedächtnis -, zählt er zu den Besten. Sodann unternimmt der hervorstechende Pianist Konzertreisen durch Europa (Schweiz, Holland, Belgien, Frankreich, später England), eine Reise geht auch in die USA. Über die Jahre um 1900 wirkt er selber als Lehrer für Klavier am Moskauer Konservatorium. Ab 1911 wird der Schöpfer dreier Sinfonien, des fis-moll-Klavierkonzerts, mehrerer Poeme und jener zahlreichen Klaviermusik dauerhaft in Moskau leben. Nach Auftritten in Petrograd und Kiew erkrankt Skrjabin plötzlich. Ein Abszess an seiner Lippe führt 1915 zu seinem Tod.

In der Zeit herrschen in den russischen Musikzentren Entsetzen und künstlerisch relative Ruhe um ihn. Der Krieg tobt in Europa. Wirklich bekannt wird der Russe international nach dem Krieg. Arnold Schönbergs »Verein für musikalische Privataufführungen« in Mödling setzt 1918 sogleich ein Fanal. Im Eröffnungskonzert des Vereins vom Dezember 1918 erklingen Skrjabins 4. und 7. Klaviersonate, gespielt von Eduard Steuermann. In Russland und bald Sowjetrussland fühlen sich futuristisch inspirierte Komponisten wie Nikolai Roslawetz, Arthur Lourié, der frühe Alexander Mossolow, Iwan Wyschnegradsky u. a. von Skrjabins Neuerungen angesteckt und suchen dieselben auszubauen. Daneben halten Pianisten wie Samuel Feinberg, der große Pädagoge Heinrich Neuhaus, zu dessen Schülern später Emil Gilels und Swjatoslaw Richter gehören sollen, und andere Nachfahren die Skrjabin-Fahne hoch.

Für Richter, geboren in dem Jahr, in dem Skrjabin starb, ist dieser kein Gott. Der geniale Klavierhirsch hat zwar fast alle Etüden, Preludes und Sonaten gespielt, jedoch teils widerwillig. »Zu viel Pedal, zu unklar«, meckerte er einmal an sich selber rum. Richter: »Skrjabin ist nicht das Brot, von dem man sich täglich ernährt; er ist vielmehr ein schwerer Likör, an dem man sich von Zeit zu Zeit berauscht, ein poetisches Opium, ein Kristall, der leicht zerbricht.« Dichter wie Boris Pasternak indes entpuppten sich als schwärmerische Skrjabinisten. In Prosaform berichtet Pasternak, er hätte die Entstehung der 3. Sinfonie hörend miterlebt und dabei eine »göttliche Begeisterung« empfunden.

Hunderte Veranstaltungen finden derzeit allein im deutschsprachigen Raum zum 100. Todestag des Russen statt. Erste Orchester und Spieler musizieren ihm zur Ehre und lösen Begeisterungsstürme aus. CD-Labels warten mit bekannten wie neuen Aufnahmen auf. Drei Ausgaben seien angetippt. Absolut hörenswert die Wiedergabe von »Le Poéme de l’Extase« mit Maria Lettberg in der Bearbeitung für Klavier solo von Sergej Pawtschinsky. Die Lettberg kombiniert diese veränderte Klangperspektive unter anderem mit Liszts spätem Klavierstück »Die Trauer-Gondel Nr. 2«, in dem aller Donner, alle Virtuosität wie ausgeblasen scheint. Zwei gegensätzliche Entwürfe treffen aufeinander. Die Aufnahmen besorgte Deutschlandradio Kultur. Älter sind die Aufzeichnungen der kompletten Piano-Sonaten Skrjabins durch Vladimir Stoupel (audite, WDR). Die 9. Sonate, betitelt mit »Schwarze Messe«, zentralisiert besagtes Tritonus-Intervall und gruppiert chromatisches Material um es herum. Die geheimnisumwobenen Eckteile setzen die Ohren den Nebeln chromatischer Achtel-Ketten aus. Jedoch dies Düstere macht alsbald einem grotesken Marschgebilde Platz. Die Auslegbarkeit dieser 9. Sonate, die das Hören veränderte, ist erstaunlich. Stoupel, den schwärzlichen Hintergrund ausmalend, braucht für die Umsetzung knapp elf Minuten, während die zwei Einspielungen durch Wladimir Horowitz - Sony Music gab jetzt eine Skrjabin-CD-Box mit ihm heraus - teils weit darunter liegen. Die von 1965 dauert 9 Minuten und 40 Sekunden und die von 1953 gar nur 6 Minuten, 40. Rasant spulen bei letzterer Aufnahme die elf Teile des Werkes ab. Ein Stück hochmoderner Skrjabin-Interpretation, bei der über die Temposchärfe die Klarheit der Abläufe keineswegs geopfert wird.

Skrjabin starb am 27. April 1915, in dem Jahr, in dem Schönberg seinerseits mit atonalen Werken das musikalische Hören verändert hat.

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