Auf der Flucht vor den Erinnyen

António Lobo Antunes: Sein Roman »Kommission der Tränen« handelt vom Bürgerkrieg in Angola

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Chronist der portugiesischen Kolonialkriege bleibt dem Land seiner eigenen afrikanischen Erfahrungen treu. António Lobo Antunes thematisiert in seinem Roman »Kommission der Tränen« den Bürgerkrieg und die Diktatur im postkolonialen Angola. Den Befreiungskampf gegen Portugal hatten die rivalisierenden Gruppen noch gemeinsam geführt. Danach, als es um die Gestaltung des unabhängigen Landes ging, lieferten sich die kommunistische MPLA und die eher westlich orientierte UNITA blutige Herrschaftskämpfe, in denen es auch zu Säuberungen innerhalb der Gruppierungen kam. Die »Kommission der Tränen« war ein Unterdrückungsinstrument der MPLA, das auch gegen Oppositionelle aus den eigenen Reihen brutal eingesetzt wurde.

Antunes war als Militärarzt in der portugiesischen Kolonialarmee eingesetzt, war nach der Nelkenrevolution in Portugal Chefarzt in einer psychiatrischen Klinik in Lissabon und schreibt - die »Kommission der Tränen« ist sein 23. Roman - gegen alle Lesegewohnheiten und gegen das Vergessen dieser Gräuel an. Diverse, nicht immer scharf voneinander getrennte Ich-Erzähler leihen seinem neuesten, wieder von Maralde Meyer-Minnemann bewundernswert übersetzten Roman abwechselnd und ineinander verschachtelt ihre Stimmen. Sie erinnern sich, drücken ihre Empfindungen und Gedanken aus, vermischen ihre Bewusstseinsströme zu einem literarischen Binnendelta, das die Orientierung nicht gerade erleichtert.

Mit diesen, vor der einfachen Lesbarkeit aufgebauten Hürden lässt es der Autor aber nicht gut sein: Seine »Hauptperson« ist Cristina aus dem historischen Viertel von Lissabon. Sie hört Stimmen und muss immer wieder in eine psychiatrische Klinik. Sie ist in Luanda, der Hauptstadt Angolas, geboren. Ihre Mutter war Portugiesin, ihr Vater Angolaner, Mitglied der MPLA und lud in der »Kommission der Tränen« schwere Schuld während der Säuberungen in seiner Partei auf sich.

Als Cristina fünf Jahre alt war, floh ihre Familie nach Portugal. Sie erinnert sich schmerzhaft an das, was sie in Angola von dem damaligen Terror mitbekommen hat. Sie hört die Stimme der gefolterten jungen Frau, die unter den Qualen der Tortur bis zu ihrem Tode sang, sie wird in ihren Träumen von den Toten aufgesucht, die der Inquisitionsinstanz der »Kommission der Tränen«, also dem Wirken ihres Vaters, zum Opfer fielen.

Der Autor weiß aus seiner Berufserfahrung als Psychiater, dass das kein Mensch aushalten kann. Wenn die inzwischen etwa vierzigjährige Cristina zu Wort kommt, diktieren ihr traumatisiertes Bewusstsein, ihre »ererbte« Schuld, ihr Wissen um die konkreten Einzelheiten und ihre trostlose Trauer um Tausende Angolaner, die ohne Schuld qualvoll ermordet wurden, Sätze in den Roman, die sich wie ein hilfloses, fundamentales Gedenken lesen.

António Lobo Antunes schreibt alles andere als ein Sachbuch über das postkoloniale Angola. Er arbeitet mit den avancierten literarischen Mitteln, die seine Verehrer seit Jahrzehnten an ihm schätzen, auch eigene, kollektive, nationale Schuldgefühle wegen der Spätfolgen des portugiesischen Kolonialismus ab. Wenn er dabei rastlos, über viele Seiten ohne Punkt und polyphon schreibt, dann treiben ihn die Erinnyen, die in ihm selbst wirken. Das ist existenzielles Schreiben, das man nur bewundern kann und das die beim Lesen notwendige Energie allemal rechtfertigt.

António Lobo Antunes: Kommission der Tränen. Roman. Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. Luchterhand. 382 S., geb., 22,99 €.

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