Glücksgefühl und Sorge

»Genesis« - eine Predigt auf die Schöpfung: Fotos von Sebastião Salgado in der Galerie C/O

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Wir sind Schöpfer. Wir schöpfen ab, wir schöpfen aus. Bis zur Erschöpfung - der Erde. Wir möchten ein Leben führen, das uns rettet, aber gleichzeitig so tun, als hätten wir Rettung nicht nötig. Wir kauern in den Ruinen unserer Effizienzideologie und lassen uns von staatlich ausgebildeten Fälschern bescheinigen, es seien Paläste. Sieh hin! Die wirklichen Paläste: Baumkronen, kathedralenhoch. Eisberge, domgewaltig. Weite Dehnungen aus Dünen oder Dickicht und Himmeln aus Wolken und Vogelflug.

245 Fotos von Sebastião Salgado sind im Amerika-Haus zu sehen, in der Fotogalerie C/O Berlin, erstmalig in Deutschland. Das Langzeitprojekt »Genesis«. 32 Reisen in acht Jahren: auf die Galapagosinseln, in die Antarktis, zu Ureinwohnern auf West-Papua und in Brasilien, zu den Nomaden in Sibirien, auf die Bergmassive Alaskas und in den Regenwald des Amazonas. Nordensüdenostenwesten - eine einzige Welt aus jeweils extremer Andersartigkeit. Blick auf jene 46 Prozent Erde, deren Unberührtheit an die Ursprünge der Schöpfung erinnert. An den vermeintlichen ersten Tag. Hinkehr zur absoluten Natur.

Die »Genesis« ist eine Weltschutzaktion mit den Mitteln einer engagierten Kunst, aber vor allem auch Salgados Selbstrettung nach Jahrzehnten Fotografie in Krieg, Not, schreiendem Unrecht und gnadenloser Zerstörung. Da musste Schönheit her, um nicht selber seelisch zu krepieren. Mit Bildern jene grausamen Bilder austreiben, die sich im Kopf selbstständig machten und zum Herz hin wanderten, mit Tötungsabsicht. Ja, dagegen Schönheit setzen! Schönheit muss ausgesprochen, muss gezeigt werden - weil sie verschwindet. Tröstlich, dass sie dort langsamer verschwindet, wo der Mensch nicht so schnell ist, wie er sein möchte, beim Verändern, beim Eingreifen, beim Zerstören, das er Kultur nennt. Auf Salgados Schöpfungs-Fotos schauen wir auf etwas, das wir nicht mehr zu schätzen wissen.

Die vielen Gesichter der Wetter. Die Stille einer Nacht, die nur einen Leoparden an der Wasserstelle zeigt. Mondweiße Wellenkämme rasen, und das Eis ist fotografiert, dass du ein Knirschen hören kannst. Zwischen den Bergen leuchtet ein Fluss wie ein Blitz. Wie auf den mittelalterlichen Schlachtengemälden von Albrecht Altendorfer tummeln sich friedliche Heere von Pinguinen. Der Brasilianer Salgado, 71 (»Das Salz der Erde«, der Film von Wim Wenders, schuf ein ergreifendes Porträt): ein Fahrensmann, doch dies nicht im reportierenden, sondern im zutiefst literarischen Sinne - es gibt bei diesem Künstler eine intime Nähe zwischen dem Leben, das er fotografiert, und den Ausdrucksbewegungen seiner Bilder. Die das Gesehene gleichsam weitererzählen in neuer, anderer Sprache. Die grandios komponiert sind, die mit Licht und Schatten zaubern, die harte Strukturen und weiche Schleier bilden. Das Körnige, das Grau, und alle Wege führen zum Barock - der Steppen und Herden, der Wasser und wandernden Wüsten. Barock, als wäre es die Bibel.

Tief im Inneren seiner Geschichte ist jeder Erzähler zugleich in der Mitte der Welt, und diese Mitte, das ist - beim Betrachten dieser fotografischen Gemälde - die antreibende Spannung aus Glücksgefühl und Sorge. Es geht ein Sog von diesen Fotografien aus, der etwas zu tun hat mit jener zentralen Erfahrung, der jeder Mensch den Beginn seiner Subjektivität verdankt: dem Zusammenprall fremder und eigener Wahrheit.

Die eigene Wahrheit? Diese Ausstellung, unmittelbar platziert am Bahnhof Zoo, verlässt du als der, der du schon vorher warst: ein Städtebewohner. Vorratsreich. Gut ausgeschildert bis in alle Organe. Jetzt nun: diese Salgado-Bilder im Kopf, aber auch Namen. Sierra Curicuriari, Foyn Harbour, Puerto Piramides, Jayawijaya, Moramba, Tin Merzonga, Erg Urbari. Nie gehört. Unbekannte Welt. Exotische Wörter - sprich sie leise vor dich hin, als lerntest du eine neue Sprache! - fügen sich zum geografisch-mythischen Gewebe. Du trittst ins Freie und begreifst einmal mehr: Der moderne Großstadtbewohner vergaß, was er vermissen kann - just dies macht ihn sehnsuchtslos. Denn in glatter Umgebung fehlen Einzelheiten und Zeichen, die einen anderen Sinn vermitteln könnten als eben Glätte. Glätte verhindert Erinnerbarkeit. Im ausschließlich ökonomisch zugerichteten Areal, das Kaufkraft bündeln muss, sonst nichts, darf der Mensch keine Primär-Erfahrungen mehr erwarten; längst trat ein, was Walter Benjamin für eine Stadtexistenz früh voraussah: »Für den aber, der keine Erfahrungen mehr machen kann, gibt es keinen Trost.«

Die Tafelberge des Grand Canyon wie metropolische Terrassen. Steinflächen schraffiert wie Spinnweben. Über Tierherden ein Himmel wie eine Kirchenkuppel. Wir sehen Natur, die nichts weiter ist als sie selber. Dazu gehören Überlebensstrategien wie überall, dazu gehört Kampf, gehören die Kriege zwischen Stark und Schwach, sei es zwischen Fels und Baum, Tier und Tier, Mensch und Tier. Aber alles Werden und Verwittern erzählt von Fülle, wo in unseren Breiten längst die raffende Ausleerung der Welt betrieben wird. Die Fotos betrachtend, wähnt man sich dem wahren Geheimnis der Existenz nahe - und man ahnt, dass alles, was wir Geheimnis nennen, an seinem Ursprung wild und weit war. Und dass die Einfalt fernster Völker eine Freiheit ist, die eine Isolation von uns Westlern voraussetzt, eine Isolation, die zum Glück nur Menschen wir Sebastião Salgado durchbrechen dürfen. Dessen Fotos Welt fanden und zugleich erfinden - eine Welt, die mehr widerspiegelt als unser blässliches Gesicht.

»Genesis« von Sebastião Salgado: Amerika-Haus, bis 16. August. Hardenbergstraße 22-24, tgl. 11 bis 20 Uhr. Katalog (Taschen Verlag) 49,99 €.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal