In Vietnam sind Gäste aus den USA willkommen

40 Jahre nach Kriegsende entdecken die einstigen Gegner »ähnliche Sichtweisen«

  • Detlef D. Pries
  • Lesedauer: 5 Min.
Am 30. April begeht Vietnam den Tag der Befreiung mit Militärparade, Musikshow und Feuerwerk. Vor 40 Jahren endete der »Amerikanische Krieg«.

Zwei Fotos stehen sinnbildlich für die letzten Apriltage des Jahres 1975: das Bild des Panzers der Vietnamesischen Volksarmee, der das Gittertor vor dem »Unabhängigkeitspalast« im damaligen Saigon durchbricht, und das der USA-Botschaft, auf deren Dach US-Amerikaner und etliche ihrer südvietnamesischen Schützlinge in die letzten Flucht-Hubschrauber drängen.

Das Botschaftsgebäude im heutigen Ho-Chi-Minh-Stadt wurde 1998 abgerissen. Washingtons diplomatische Mission hat ihren Sitz inzwischen in Hanoi und Botschafter Ted Osius lobt die Beziehungen zwischen den einstigen Kriegsgegnern trotz ihrer ideologischen Gegensätze in hohen Tönen.

Neun Milliarden Dollar hatten es sich die USA bereits zwischen 1955 und 1961 kosten lassen, im Süden Vietnams ein korruptes Regime zu unterhalten, um den »Vormarsch des Kommunismus in Südostasien« zu stoppen. Tatsächlich aber unterdrückten sie den Unabhängigkeitswillen eines Volkes, als dessen Vorkämpfer die Partei Ho Chi Minhs im Norden auftrat. Weder durch die Entsendung von 16 000 Militärberatern ab 1961 noch durch den Einsatz von Kampftruppen ab 1965 vermochten die USA den Widerstand zu brechen. Auf dem Höhepunkt des Krieges hatten die USA mehr als eine halbe Million Soldaten in Vietnam stationiert, 1972 erwog Präsident Richard Nixon sogar den Einsatz von Atomwaffen. Da hatten die USA den Norden Vietnams bereits mit einem verheerenden Bombenkrieg überzogen.

Mit militärischen und diplomatischen Mitteln, dank der Unterstützung der Sowjetunion und ihrer Verbündeten, aber auch einer weltumspannenden Antikriegsbewegung - nicht zuletzt in den USA selbst - wurden die Aggressoren dennoch zum Rückzug gezwungen.

Der Krieg hatte drei Millionen Vietnamesen und mehr als 58 000 US-Soldaten das Leben gekostet. Das Land war weitgehend zerstört, große Teile waren durch Minen und Blindgänger unbewohnbar geworden. Auf weiten Gebieten wächst nach dem Einsatz von 80 Millionen Litern dioxinverseuchter Entlaubungsmittel nichts Nutzbares mehr. Nachkommen derer, die mit dem Gift in Berührung gekommen sind, leiden bis heute unter Missbildungen und Krankheiten.

Ein Jahr nach Kriegsende lief in der Küstenstadt Nha Trang ein kleiner Junge angstvoll in die Arme seiner Mutter, als er mich - damals »nd«-Korrespondent - erblickte. Die Frau beruhigte das Kind, indem sie ihm versicherte, ich sei kein Amerikaner. Heute schreckt der Anblick eines »My« niemanden mehr in Vietnam. Als Touristen waren 2014 fast eine halbe Million US-Amerikaner willkommen. »Wir vergeben, aber wir vergessen nicht«, werden ältere Vietnamesen häufig zitiert. 70 Prozent der 90 Millionen Landesbewohner sind ohnehin nach Kriegsende geboren. Sie hegen alles andere als Groll gegen die USA.

Die Regierungen in Washington allerdings wollten den Vietnamesen über zwei Jahrzehnte lang nicht vergeben. Statt Wiedergutmachung zu leisten, verhängten sie ein Wirtschaftsembargo gegen das 1976 auch offiziell als Sozialistische Republik Vietnam wiedervereinigte Land. Erst 20 Jahre später, 1995, wurden die Beziehungen zwischen beiden Staaten normalisiert. Im selben Jahr bekannte der vormalige Verteidigungsminister Robert McNamara im Rückblick auf den Krieg: »… wir haben uns geirrt, schrecklich geirrt.«

Heute, weitere 20 Jahre später, sind die USA Vietnams wichtigster Exportmarkt: 19 Prozent der vietnamesischen Ausfuhren gingen 2014 über den Pazifik - mit einem Überschuss von 22 Milliarden Dollar. 16 000 junge Vietnamesen studieren im einstigen Feindesland. Die Überweisungen von zwei Millionen in den USA lebenden Vietnamesen an Verwandte in der alten Heimat sorgen für einen erheblichen Devisenzufluss. Die einst vor der »kommunistischen Gefahr« geflohenen Emigranten und ihre Nachkommen werden inzwischen auch als Investoren begrüßt. Schließlich soll Vietnam - so jedenfalls hat es die KP ehrgeizig verkündet - bis 2020 zum Industrieland werden.

Seit Bill Clinton im Jahr 2000 als erster USA-Präsident die Sozialistische Republik besuchte, reisen Regierungsvertreter beider Staaten regelmäßig über den Pazifik. Auch gegenseitige Militärbesuche sind geradezu Routine geworden. Das von Washington gegen Vietnam verhängte Embargo für militärisch nutzbare Güter gilt nur noch für »letale« (tödliche) Waffen. Die USA hätten »viel anzubieten«, um Vietnams Sicherheit »kurz-, mittel- und langfristig zu stärken«, lockte Botschafter Ted Osius im Interview für die Nachrichtenagentur VNA.

Der Hanoier Vizeverteidigungsminister Nguyen Chi Vinh sprach gegenüber VietNamNet kürzlich von »ähnlichen Sichtweisen auf die regionale Sicherheit«, die eine militärische Kooperation mit den USA begünstigten. Der Hintergrund ist offensichtlich: Der immer wieder hochkochende Streit mit China um Inseln und Seegebiete im Südchinesischen Meer, das in Vietnam Ostmeer genannt wird, ist für Hanoi ein Beweggrund, Rückendeckung auch beim einstigen Kriegsgegner zu suchen. Die USA wiederum nutzen die vietnamesischen Befürchtungen angesichts des wirtschaftlich und militärisch mächtigen Nachbarn, um ihren eigenen Einfluss in der Region gegen die chinesische Konkurrenz zu stärken.

Allerdings bemüht sich die vietnamesische Führung, nicht in die Machtspiele zwischen den Großen hineingezogen zu werden: Sie legt längst nicht mehr alle Eier in einen Korb. Anfang April versicherten sich KPV-Generalsekretär Nguyen Phu Trong und der chinesische Partei- und Staatschef Xi Jinping in Peking abermals ihrer »traditionellen Freundschaft« und der »umfassenden strategischen Kooperationspartnerschaft« ihrer Staaten. Zur gleichen Zeit liefen im Hafen von Da Nang Schiffe der US-Marine zu gemeinsamen Manövern ein und Trong selbst will noch in diesem Jahr in die USA reisen.

In Hanoi war derweil Premier Dmitri Medwedjew zu Gast, denn auch mit Russland unterhält Vietnam gute Beziehungen. Das dritte von sechs U-Booten der Kilo-Klasse, die Hanoi in Moskau bestellt hat, machte bereits in der Bucht von Cam Ranh fest. Die einstige USA-Basis stehe für Schiffe und Flugzeuge aller Staaten als Versorgungs- und Reparaturstützpunkt zur Verfügung, heißt es in Hanoi. Aber - und das wird betont - Cam Ranh sei und bleibe vietnamesisch. Aus bitterer Erfahrung wissen die Vietnamesen, dass die Großen ihre kleineren Verbündeten schnell vergessen, wenn es um ihre eigenen Interessen geht.

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