Mutter der Gewehre - alleinerziehend?

Der Skandal um das G36 und der um die Verteidigungsministerin von der Leyen

  • René Heilig
  • Lesedauer: 7 Min.
Das Standard-Sturmgewehr G36 der Bundeswehr wird heiß beim Schießen. Logisch. Doch dann trifft man nicht mehr. Unlogisch?

Wie man das Ding auch drehen mag, aus friedenspolitischer Sicht ist dem Skandal nichts abzugewinnen. Tot ist tot, verletzt ist verletzt, egal ob der Schütze richtig gezielt hat oder die Waffe mit ihrem Fehler dessen Fehler ausglich. Sicher ist, dass die Standardflinte der Bundeswehr offenbar Qualitätsmängel hat. Seit Produktionsbeginn. Das ist in der Tat skandalös. Zumindest aus militärischer und aus der Sicht von Steuerbürgern.

Verglichen mit der teuren Anschaffung aufgemotzter Leopard-2-Panzer für ein neu aufzustellendes Bataillon, verglichen mit der heimlichen Anschaffung neuer Kampfdrohnen, mit Korvetten, die jahrelang in der Werft bleiben müssen, weil sie hingeschludert sind, verglichen mit Eurofightern, deren Lebensdauer vom Hersteller drastisch gesenkt werden musste, verglichen mit Transporthubschraubern, die nicht die geforderte Leistung bringen, dafür aber beim Betätigen der Feuerlöschanlage vom Himmel fallen - verglichen mit all dem Pfusch, den die Rüstungsindustrie dem deutschen Militär liefert, ist die «Affäre Sturmgewehr» eigentlich eine kleine, fast billige. Aber: Sie ist wirksamer als andere.

Man kann weitaus mehr als bei Schiffen, Panzern oder Hubschraubern auf die moralische Empörung der Bürger setzen. Selbst die oft zitierte Oma auf dem Fichtelberg ist bereit zum Protest, wenn man ihren Enkel oder die Enkelin des Nachbarn mit einem schlechten Gewehr in den Krieg schickt und so riskiert, dass der im Grunde unterlegene Feind allein den Sensenmann lenkt. Siehe Karfreitagsgefecht vor fünf Jahren in Afghanistan. Dieses unterschwellig in der G36-Kritik transportierte Argument ist zwar nach Ansicht der meisten Soldaten Unfug. Doch was nützt es, wenn gleich ihnen Generale aus der Heeresführung abwinken und langgediente Oberstleutnants im Gespräch gern zugeben, mit keinem anderen Gewehr so erfolgreich vom Schießstand gegangen zu sein. Die Kritik am G36 wirkt dennoch.

Gegen wen? Es ist plump und daher auffällig, wie das einstige «Sturmgeschütz der Demokratie» sich gegen die Verteidigungsministerin eingeschossen hat. Von der Leyen ist schuld, tönt der «Spiegel» Woche für Woche - wohl wissend, dass die im April 2012 noch gar nicht im Amt war. Damals wurden die ersten Vorwürfe gegen das Sturmgewehr öffentlich. Sie sind aber älter. Schon bei der Erprobung der Waffen durch Elitekämpfer unter Wüstenbedingungen tauchte das Problem mit der nachlassenden «Trefferfreudigkeit» auf.

Aber: «Ceterum censeo Carthaginem esse delendam!» So endete der römische Staatsmann Cato jede seiner Reden: «Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss.» Und Karthago wurde bekanntlich zerstört. Über welches Rüstungsprojekt sie stolpert, weiß die Ministerin nicht, doch dass in Führungskreisen der SPD, die nicht von der 25 Prozentmarke wegkommt, die Losung ausgegeben ist, «putzt die Uschi weg, bevor die CDU eine Kanzlernachfolgerin in ihr hat», hat sie gewiss erreicht.

Es gibt - zumal in diesem Blatt - keinen Grund, sich schützend vor die CDU-Ministerin zu stellen. Wohl aber kann man ja mal fragen, ob das G36-Dauerfeuer, das auf sie gerichtet ist, nicht vielleicht der Versuch einer Disziplinierung ist? Von der Leyen hat seit ihrem Amtsantritt am 17. Dezember 2013 viele wichtige Leute verärgert. Sie bestätigte nach der ersten Vorlage nicht eines der laufenden Rüstungsgroßprojekte. Sie war - anders als ihre Vorgänger - nicht bereit, intime Verhandlungen mit Herstellern zu führen. Sie lud alle an einen Tisch, um üblichen Intrigen so ein größeres Forum zu geben - was Intrigen obsolet macht. Von der Leyen verbot «Hey-Joe-Gespräche» auf den Fluren des Ministeriums, bei denen bislang im Vorbeigehen Abmachungen getroffen wurden. Sie feuerte bislang gottherrlich agierende Staatssekretäre und schockte ihren bestehenden Hausapparat dadurch, dass Berichte «nach oben» nicht mehr in zehn, sondern allenfalls in zwei Ebenen frisiert werden können.

Schaut man sich die G36-Orderverträge an, so sind sie - bis auf einen - lange vor der Leyenzeit geschlossen worden. Alles begann wieder einmal damit, dass die Bundeswehr nicht kaufte, was sie brauchte, sondern das nahm, was die Industrie - in diesem Fall Heckler&Koch - anbot. Wie bei fast allen aktuell zu kritisierenden Waffensystemen tat das Ende des Kalten Krieges ein Übriges.

Das bisherige G3 war out. Die Nachbestellungen dürftig. Man habe da so etwas Futuristisches entwickelt, das wolle man zur Truppenreife bringen, sagte Heckler&Koch. Und die Bundeswehr brauchte rasch ein Sturmgewehr mit dem vorgegebenen neuen NATO-Kaliber 5,56 mm x 45, «um die vorwiegend infanteristisch eingesetzten Soldaten der Krisenreaktionskräfte ab 1996 mit leistungsfähigen, den Anforderungen gerecht werdenden Waffen auszurüsten». Die taktisch-technischen Forderungen für das G36 waren vom General der Heeresrüstung am 1. September 1993 (sinnigerweise dem Tag des Überfalls auf Polen) unterzeichnet worden. Die Einführungsgenehmigung für das Gewehr wurde am 8. Mai 1995 (sinnigerweise am Jahrestag der Befreiung oder - je nach Sichtweise - der deutschen Kapitulation) erteilt.

Zwischen 1992 und 1998 kommandierte CDU-Mann Volker Rühe auf der Hardthöhe und im BendlerBlock. Gleichfalls zur Erinnerung: 1992 zog man noch mit dem G3 nach Somalia, ab 1995 war die Bundeswehr auf dem Balkan präsent - bald schon mit dem Nachfolgegewehr.

Wenn man also die offizielle Zahl von gut 17 Milliarden Euro für die seit 1992 stattgefundenen Auslandseinsätze nennt, dann sind die Kosten für neue Ausrüstungen und Waffen - siehe G36 - nicht eingerechnet. Der Gerätesystempreis betrug übrigens Mitte der 90er Jahre 1672 D-Mark. Die Bundeswehr hat bislang knapp 200 000 dieser Sturmgewehre beschafft.

Jenseits der Kosten sind die Anforderungen, die das Militär an das angeblich alleskönnende Sturmgewehr stellte. Da war von einem «24-Stunden-Kampftag unter allen klimatischen und geografischen Verhältnissen» die Rede, bestätigt man jetzt im Leyen-Amt. Die zugrundegelegte NATO-Richtline Stanag 2895 («Extrem Climatic Conditions ...) ist nachlesbar. Sie verlangt den Einsatz unter meteorologischen Bedingungen bis zu 49 Grad Celsius. Der Einsatz ohne Unterstützung schwerer Waffen sei von »hoher Wahrscheinlichkeit«, weshalb das neue Gewehr »in Kampfentfernung, Treffsicherheit, Wirkung, Munitionszuladung, Zuverlässigkeit, Verfügbarkeit und leichter Handhabbarkeit« den neuen Bedingungen zu entsprechen hat, aber auch für den konventionellen Einsatz »uneingeschränkt« geeignet sein muss.

Wenn jetzt herauskommt, dass das G36 diese Bedingungen nicht erfüllt, ist wer schuld? Vermutlich der Hersteller. Und all jene, die die Qualität des Gekauften nicht überprüft haben. Das waren unter den SPD-gestellten Verteidigungsministern Rudolf Scharping, Peter Struck und unter den Unionskollegen Franz Josef Jung, Karl-Theodor zu Guttenberg, Thomas de Maizière ganze Heerschaaren von uniformierten und zivilen Beamten und angeblich fachkundigen Bundestagsabgeordneten.

Zivile Experten, beispielsweise das eigentlich für Heckler&Koch zuständige Beschussamt in Ulm, die sonst jede Waffe testen und zertifizieren müssen, ziehen sich auf ein Gesetz zurück. Es gestattet der Bundeswehr eigene Regeln. Und die hat man in den zuständigen Stellen offenbar so weit ausgelegt, dass der Hersteller selbst das Einschießen und Zertifizieren der G36 vornehmen konnte. In den technischen Lieferbedingungen liest man: »Sämtliche ... geforderten Beschussprüfungen sind vom Auftragnehmer in Anwesenheit des amtlichen Güteprüfers durchzuführen.« Zugleich ist aber auch die Rede davon, dass die Waffe »nach jedem Schießrhythmus mit Druckluft auf ... Umgebungstemperatur« zu bringen sei.

Techniker werden das womöglich deuten können. Haushaltsexperten mutmaßen dagegen: Es riecht weniger nach Waffenöl als vielmehr nach Korruption. Und wer mag behaupten, Schmiergeld fließe nur bei Rüstungsexporten? Doch, so sagte selbst der Linkspartei-Oppositionspolitiker Jan von Aken nach dem jüngsten Auftritt der »nach vorne blickenden« Ministerin vor dem Verteidigungsausschuss: »Einen Untersuchungsausschuss wird es wohl nicht geben.« Fraktionskollege Michael Leutert meint: Der jetzt vorliegende Prüfbericht wirft zusätzliche Fragen auf. Die vorläufige Forderung kann also nur absolute Transparenz heißen. Der Haushälter kann sich »nicht vorstellen, dass der Skandal um das G36 zufällig kam. Dahinter steckt System« und man müsse ernsthaft »nach dem System Heckler&Koch und Ministeriumsapparat fragen«. Auch der Grünen-Haushaltsexperte Tobias Lindner verlangt, »auf dem Weg nach vorne« einem »klaren Fahrplan« zu folgen.

Kein Untersuchungsausschuss. Kein neues Gewehr? Im Gespräch sind mittelfristige Änderungen an den rund 170 000 Bundeswehr-Exemplaren sowie die rasche Umrüstung von Gewehren für Soldaten in Auslandseinsätzen. Das wären sechs- bis siebentausend Waffen, die unter anderem mit einem stärkeren Rohr versehen werden könnten.

Das ist ein Leichtes für den Hersteller, denn bei der Beschaffung der Waffe in den 1990er Jahren hatte der parallel auch ein leichtes Maschinengewehr dieser Bauart angeboten. Das MG36 hat einen dickeren Lauf und je dicker der ist, umso weniger verbiegt er sich beim Feuern. Hofft man. Und hört nicht auf Kritiker, die die mangelnde Wärmeableitung durch den beim Sturmgewehr verwendeten Kunststoff kritisch beäugen.

Das G36 wird weiter seine unguten Dienste leisten. Sowohl in »symmetrischen Konflikten«, also einem herkömmlichen Krieg, wie »in asymmetrischen Konflikten«. »Darüber hinaus kann eine Bedrohung im Einsatz von gewaltbereiten Menschenmengen oder von Einzeltätern und Tätergruppen aus Menschenmengen heraus ausgehen«, formuliert der Chef der Wehrtechnischen Dienststelle 91 und beschreibt damit entwaffnend ehrlich, warum das G36 bei Diktatoren und Helfern von Schurkensystemen in aller Welt so begehrt ist.

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