nd-aktuell.de / 04.05.2015 / Politik / Seite 2

Es geht nicht nur um nackten Sex

Prostitution als Betreuung für Pflegefälle und Behinderte

Harald W. Jürgensonn
Sex zwischen Rollstuhl und Prothese? Vieles in der Arbeit von Stephanie Klee ist anders als bei »normaler« Prostitution.

Manfred R. ist seit einigen Wochen in der geschlossenen Abteilung eines Seniorenheims untergebracht. Er vernachlässigt sich zusehends, belästigt Mitbewohnerinnen und weibliches Personal sexuell, schließlich ist er isoliert. Deshalb ist für ihn die Pflegestufe 3 vorgesehen.

Bis er die Sex-Assistentin Stephanie Klee kennen lernt. Er erkennt und versteht schnell, dass er seine Sexualität nur mit ihr ausleben darf. Plötzlich pflegt er sich wieder, wäscht und rasiert sich, nimmt an geselligen Treffen der Wohngruppe teil und wirkt befreit und glücklich. Seine Pflegestufe ist jetzt 1, die Einstiegsstufe.

Renate W. fällt in ihrer Behinderteneinrichtung immer wieder auf, weil sie nackt und breitbeinig im Aufenthaltsraum sitzt und masturbiert. In einem langen, einfühlsamen Gespräch erklärt ihr die Sex-Assistentin den Gebrauch von Sex-Spielzeug, hat auch gleich Vibrator und Dildo mitgebracht, um mit der jungen Frau den Einsatz zur Selbstbefriedigung zu üben. Seitdem zieht sich Renate W. in ihr Zimmer zurück, wenn sie ihre Sexualität aus- und erleben möchte. In ihrer Gruppe ist sie nicht mehr Außenseiterin, sondern voll integriert.

Zwei Beispiele mit geänderten Namen, aber realen Hintergründen. Sexualität in Behinderten- oder Senioreneinrichtungen - ein Thema, das durch Frauen wie Stephanie Klee enttabuisiert wird. Sie ist eine von 15 Sex-Assistentinnen in Deutschland, einen Mann gibt es nicht in dieser Branche. Der erste Besuch kostet 200 Euro, jeder weitere 150 Euro. Es geht nicht nur um nackten Sex: Vor den Treffen finden Gespräche mit Angehörigen, mit dem Betreuungspersonal und den Kunden und Kundinnen statt. In den Seniorenheimen sind sie meist zwischen 70 und 90 Jahre alt, Behinderte sind oft jünger.

Stephanie Klee, Rheinländerin, Steuern zahlende Hure aus Überzeugung und Sexualbegleiterin mit sozialem und therapeutischem Anspruch. »Die Wünsche der Bewohnerinnen und Bewohner von Einrichtungen unterscheiden sich nicht von denen anderer Prostitutionskunden. Die gesamte Palette sexueller Dienstleistungen wird nachgefragt und angewandt - natürlich mit den geistig-körperlichen, altersbedingten und medikamentösen Einschränkungen«, sagt sie. Eine ihrer Erfahrungen: Dementen Männern tut Intimität gut, sie werden ruhiger und ausgeglichener, nehmen wieder mehr am Alltagsleben teil, und Alterungsprozess bzw. das Fortschreiten der Krankheit werden verlangsamt.

Wurde sie anfangs scheel beäugt, hat sich das Bild gewandelt. Immer weniger Ärzte sind bereit, den Sexualtrieb ihrer Patientinnen und Patienten medikamentös zu behandeln. Auch beim Personal der Senioren- und Behinderteneinrichtungen ist nicht nur das Verständnis für die Bedürfnisse der ihnen Anvertrauten gewachsen - sie arbeiten mittlerweile zum Teil eng mit Klee und deren Kolleginnen zusammen. Sexualassistenz ist in keiner Schmuddelecke (mehr), sondern ein wichtiger Bestandteil der Betreuung. Und, so Klee, auch die Prostitution werde dadurch entstigmatisiert: »Für mich ist die Arbeit als Sexualassistentin Prostitution mit erweiterten, neuen Aspekten. Ich verstehe sie als Anpassung an die veränderten Herausforderungen unserer Gesellschaft.«

Vieles in diesem Bereich ist anders als bei »normaler« Sexualität, »normaler« Prostitution. Da sind medizinische Hilfsmittel wie Beatmungsgeräte, Rollstühle, Prothesen. Da gibt es Verständigungsschwierigkeiten. Da gibt es Befangenheit - nicht nur bei den Betroffenen, sondern vornehmlich bei deren Kindern, Eltern oder anderen Angehörigen. Da ist die finanzielle Seite, die besonders misstrauisch von Angehörigen gesehen wird, die ihr zu erwartendes Erbe schwinden sehen. Da ist die räumliche Situation, oft Mehrbettzimmer mit nicht höhenverstellbaren und viel zu schmalen Betten, mit fehlenden Nasszellen und mit klinisch-kalter Atmosphäre. Stephanie Klee und ihre Kolleginnen versuchen, bei all diesen Widrigkeiten »Normalität« herzustellen. Sie geben Menschlichkeit, sie geben Selbstbewusstsein und vor allem etwas, das von der Mehrheit als selbstverständlich angesehen wird, für ihre Kunden aber etwas Besonderes ist: Zuwendung.