Kunst oder Kunstgewerbe?

Theatertreffen eröffnet mit »Die Schutzbefohlenen«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Es sind einige wenige starke Bilder, die sich einbrennen: Jesus am Kreuz, ganz weit oben im Schnürboden hängend. Man sieht ihn kaum. Dann wird er herabgelassen, bis auf den Boden, bis er kippt und wie ein Herabgestürzter am Boden liegt. Unsere hehren Werte des christlichen Abendlandes? Ein zweites Bild: verschiebbare Quadrate aus Draht. Man versteht erst nicht, aber dann: Stacheldrahtelemente, die sich Teil für Teil zu einer undurchdringbaren Mauer zusammenfügen. Hier das reiche Europa, da der arme von Krieg und Seuchen verwüstete Rest der Welt.

Ja, die Zeit ist aus den Fugen, das sagt uns bereits jedes Stück von Ai-schylos oder Shakespeare. Von dieser Tatsache lebt das Theater, das berufen ist, das Bewusstsein der nie aufhörenden Tragödien wach zu halten. Aber wenn in diesem Jahr bereits 1800 Menschen, Flüchtlinge, in unserer beliebten südlichen Badewanne, dem Mittelmeer, ertrunken sind, dann sollte dieses Unbehagen nicht ohne Folgen für uns bleiben. Menschen müssen wie Menschen behandelt werden und nicht wie Aktenvorgänge. Europa darf sich nicht derart abschotten wie bisher, sondern muss Zugänge für eine geregelte Einwanderung schaffen. Fremde sind nicht immer zuerst als Kostenfaktor zu begreifen, sondern auch als Chance für Neues. Wer sagt denn, dass jene, die zu uns kommen wollen, nicht hoch motiviert und leistungsfähig sind?

Das Problem ist, dass dies den Zuschauern hier beim Theatertreffen völlig klar sein dürfte. An wen also richtet sich der kämpferische, bekennende und anklagende Ton (»Erbarmt euch!«) in Nicolas Stemanns Inszenierung des Textes von Elfriede Jelinek für das Hamburger Thalia Theater? Ein Unbehagen stellt sich ein, in mehrfacher Hinsicht. In einer Hinsicht ist es das gesellschaftliche Unbehagen selbst, das sich äußert. Was sollen wir denn tun? Mitleid allein reicht nicht. Aber wie lassen sich die Gründe dafür, dass Menschen aus ihrer Heimat flüchten, ändern? Die Flüchtlingsströme sind auch eine Folge imperialer Politik des Westens gegenüber den »armen Ländern«, in deren Boden sich unglücklicherweise oft Öl oder andere Objekte der Begierde finden. Das ist durchaus ein Thema für das Theater. Auch dass Nicolas Stemann nun eine große Gruppe afrikanischer Flüchtlinge auf die Bühne stellt, zusammen mit einer Handvoll Schauspieler des Thalia Theaters, darunter Barbara Nüsse, Daniel Lommatzsch und Sebastian Rudolph, scheint erst einmal richtig. Aber dann zeigt sich schnell das Problem: Die Namen der Schauspieler kennt man, die Flüchtlinge bleiben eine namenlose Gruppe. Und sie sprechen auch nicht, oder nur sehr kurz, von sich selbst, denn hier wird ein Text von Elfriede Jelinek, der österreichischen Nobelpreisträgerin, zur Aufführung gebracht!

Stemann war bereits vor einigen Jahren mit den »Kontrakten des Kaufmanns«, einem Text-Konvolut Elfriede Jelineks zur Bankenkrise, beim Theatertreffen. Das war nicht nur ein wichtiges Thema, sondern auch gut gemacht: die sachliche Daten- und Faktenebene in einer verwaschenen Aufregungsszenerie, die hysterisch um die Frage kreiste: Wo ist mein Geld bloß hin, das ich der Bank gegeben habe? Das Bankenstück hat gewiss auch etwas mit der fortgesetzten Destabilisierung Afrikas zu tun, denn wir leben in einer globalen Welt.

Nun also wieder ein Text Jelineks, »Die Schutzbefohlenen«, ein großer Monolog, aber eben nicht ins Detail gehend, sondern pauschal mit quasi religiösem Pathos die Gewissensfrage stellend. Was tut ihr diesen Menschen an? Aber die Menschen sind ja da, gleich hier auf der Bühne, sie könnten selbst für sich sprechen. Stattdessen hören wir einen zweistündigen Jelinek-Monolog, der auf andere Weise Unbehagen schafft.

Die moralische Vorwurfsrhetorik von Elfriede Jelinek klingt zum einen ziemlich selbstgerecht. Was hier gesagt wird, das haben die Anwesenden alle selbst schon einmal gedacht und gefühlt. Zum anderen scheiden sich - wie immer bei ihr, aber hier im Besonderen - die Geister an der voll Pathos Pirouetten im Dauerbetrieb drehenden Sprache. Kein Satz, der nicht dreimal von seinem Anfang zu seinem Ende hin und zurück gewendet wird, samt Offenlegung trivialster und hochheiliger Bedeutungsmöglichkeiten. Man kann Gott anrufen, aber auch seinen Anwalt! Das sind die Fallhöhen, die hier pene- trant dekliniert werden. Für die einen ist das Kunst, für die anderen bloß Kunstgewerbe.

Mehr noch, man geht am Ende heraus und denkt, bei den »Persern« von Aischylos, diesem bis heute irritierend gegenwärtigen Text, ging es auch um Krieg und Verfolgung, um das Schicksal von Flüchtigen. Bei Elfriede Jelinek, die für sich zwar den Bezug zu den »Schutzbefohlenen«, ebenfalls von Aischylos, reklamiert, hat man jedoch den Eindruck von bloßem Selbstbestätigungstheater. Flüchtlinge, die in einen reichlich eitlen Monolog von Elfriede Jelinek geraten sind, in dem sie nicht viel mehr als eine folkloristische Kulisse darstellen? Tabus brechen sieht anders aus.

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