Reportage aus dem russischen Babylon

Owen Matthews fügte aus Resten in seinem Papierkorb einen Moskau-Roman

  • Klaus Joachim Herrmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Das sind die ganz wilden Moskauer Zeiten, in die Owen Matthews seinen Helden Roman Lambert 1995 eintauchen lässt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion werden Milliardenvermögen und Oligarchen gemacht. Jene mit nur, aber immer noch recht vielen Millionen heißen im Moskauer Schmäh »Minigarchen«. Es ist die Zeit von Chicagoboys, der Verteilung mit Bomben, Pistolen und Betrug. Auf dem von Wjatscheslaw Maleshik als »Tschorny Rynok« besungenen Schwarzmarkt am Rigaer Bahnhof explodieren Luxuslimousinen. Zwischen den Buden jagen Milizionäre Händlern, Gaunern und vielleicht auch halbwegs Unschuldigen nach.

Solches sahen und erfuhren auch die Korrespondenten, steckten zuweilen mitten drin. Wie der des »Neuen Deutschland« oder seit 1995 der Brite Matthews. Der war Stadtreporter der »Moscow Times« und schrieb für »Times« oder »Newsweek«.

Literarisch machte der Londoner mit russischer Mutter aus Herkunft und Familiengeschichte den Bestseller »Winterkinder«. Danach befand er, es gebe immer noch genug Stoff für einen Thriller. So fügte er aus dem Papierkorb diesen Roman.

Wer ihn liest, erkennt den Orts- und Sachkundigen. Selten gelingen Beschreibungen eines Moskauer Winters so treffend nach Frostgraden und ihnen entsprechenden Empfindungen und Wertungen. Vielleicht noch weniger verbreitet sind die intimen Blicke westlicher Ausländer wie des frischen PR-Agenten in eigenes russisches Leben - als Goldsucher, Wichtigtuer und Mädchenjäger in einer schwülen, glitzernden Halbwelt.

Solches Leben fand nicht nur zu Sowjetzeiten in einer Parallelwelt und mit Privilegien statt. Da gab es so viel von dem, was sonst nicht zu haben war. Dann, wenn neben der Herkunft Devisen und ihre Rubel-Wechselkurse den Unterschied machen - nicht nur auf Gemüsemärkten.

Wir liebten das Land, bekennt Romanheld Lambert, vor allem, »weil wir von außen darauf schauten wie Besucher im Zoo«. Er selbst ist wie der Autor »Russe und kein Russe«. Moskau und Babylon als Romantitel bilden ihm kein zufälliges Begriffspaar. Dies aber weniger im Sinne von Größe und Herrlichkeit, vielmehr in jenem von Sünde, Verkommenheit und brutaler Gewalt.

Bei Wahlen in diesen 90ern gilt das Bangen der Schickeria in den angesagten Bars und Kellern Boris Jelzin. Als höchst freigiebiger Präsident verschleudert er vorgebliches »Volkseigentum« in trunkener Arroganz der Macht auf dem Tennisplatz. Das aber natürlich nur an treue Vasallen mit Zutrittsberechtigung. Er ist freilich nicht nur Gott der Bereicherung - »Das ist der größte Raubzug in der Geschichte der Geschichte.« -, sondern eines auch darüber hinaus ungehemmten Lebens.

Das alltägliche Leben, das man so gern das »normale« nennt, kommt nur am Rande vor. Es wirkt in »Moskau Babylon« wie zufällig eingestreut. Der Besuch bei Bergleuten in Tscheljabinsk passt, wenn auch trefflich beschrieben und wohl auch so erlebt, nicht recht in den Ablauf. Auch nicht das höchst lesenswerte Wunder von Sowjetmenschen mit ihrem defekten Generator im ewigen Eis.

Etwas Wärme in den menschlichen Frost dieses »Babylon« bringen am ehesten noch die Mädchen aus der Provinz. Sie kämpfen sich für das große Glück durch Sümpfe und Laken. Am Ende wird Lamberts gewesene Geliebte Sonja nicht mehr nur schön, sondern auch ziemlich reich sein. Die schöne Katja kommt von Drogen nicht los und bringt sich mit einem Sprung aus dem Fenster um ihr Leben.

Des Mordes am zuhälterischen Dima, den Lambert nach Art des russischen Frostes kalt plant und begeht, hätte es vielleicht des Romans, nicht aber der Spannung wegen bedurft. Man mag ihn auch dem Briten nicht recht abnehmen. Damit allerdings auch nicht dessen auf dem Umschlag angekündigte Wandlung zum »Dostojewskischen Helden«.

Glaubwürdig bleibt die Arroganz, Besserer der Russen, ihrer Verhältnisse und edler Retter und Rächer geschundener Mädchen sein zu wollen. Überzeugend ebenso der eitle Zorn über den Ermittler. Der will das Geständnis des Täters nicht entgegennehmen - weil er doch schon eins hat.

Der Romancier kann seine journalistische Herkunft nicht verleugnen. Das Buch nennt er eine »Mischung aus Reportage und Fiktion«. Die Reportage ist zum Teil brillant.

Owen Matthews: Moskau Babylon. Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring. Graf Verlag München. 394 S., geb., 21 €.

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