»Hier spricht Leningrad«

Der erste Gedichtband von Olga Berggolz auf Deutsch

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Leningrader Dichter, deren Werk eng mit der Blockade 1941/44 verbunden ist, kommen relativ spät zu uns. Gennadij Gors Lyrik hat Peter Urban 2007 unter dem Titel »Blockade« herausgebracht. Pawel Salzmans Tagebuch, Gedichte und Prosa harren immer noch einer Übersetzung. Von Olga Berggolz (1910-1975) lagen einzelne Gedichte und ein Teil ihrer »Tagessterne« (1963 bei Kultur & Fortschritt) auf Deutsch vor. Jetzt ist endlich ihre erste Lyriksammlung erschienen: »Gedichte 1928-1970«, von Christoph Ferber ausgewählt und großartig übersetzt, von Holger Wendland mit einem instruktiven Nachwort versehen. Der in Leningrad aufgewachsene Michael Dobbelt hat eindrucksvolle Handzeichnungen beigegeben.

Olga Berggolz kam in Petersburg in der Familie eines deutschstämmigen Fabrikarztes zur Welt. 1925 schloss sie sich der Assoziation Proletarischer Schriftsteller an. Sie studierte am Institut für Kunstgeschichte und an der Leningrader Universität. Auf Baustellen sammelte sie Erfahrungen, die sich in Gedichten und Skizzen niederschlugen. 1934 konnte sie den ersten Lyrikband veröffentlichen, 1936 ihr »Buch der Lieder«. Dann trafen sie harte Schicksalsschläge. Ihre Töchter starben. Boris Kornilov, ihr erster Mann, wurde 1938 als »Volksfeind« erschossen. Berggolz wurde aus dem Schriftstellerverband und der Partei ausgeschlossen, verlor ihre Stellung bei der Betriebszeitung, wurde verhaftet, hatte nach brutalen Verhören zwei Fehlgeburten. 1939 freigelassen, trat sie 1940 in die KPdSU ein. In ihrem »Geheimen Tagebuch« schrieb sie, auch wenn man ihr »die Seele herausriss«, habe das Gefängnis ihre Einstellung zur Sowjetunion, der Partei und deren Ideen nicht verändert.

Während der Blockade wurde sie als Rundfunksprecherin zur unverwechselbaren Stimme der Belagerten. Ihre Reden und Gedichte, die sie 1946 unter dem Titel »Hier spricht Leningrad« veröffentlichte, wurden bald darauf aus dem Verkehr gezogen. Sie begann zu trinken. Depressionen blieben ihr Problem, weil sie auch nach Stalins Tod wegen ihrer Kritik an der sowjetischen Literatur gemaßregelt wurde. Nach ihrem Tod wurde ihr Archiv beschlagnahmt. Selbst ihre Bestattung wurde, wie Daniil Granin sich erinnert, zu einem Skandal.

Ferbers Auswahl beginnt mit einem Liebesgedicht, das Berggolz für Boris Kornilow schrieb. Intime Verse wechseln mit patriotischen Gedichten. 1937/38 verstärken sich die tragischen Töne, werden Zweifel an der Treue der Genossen und Klagen über mangelndes Vertrauen laut, wird das »Haus aus Stein« zu einem Ort, in dem anonyme Kräfte »sitzen und richten«. 1939 entstehen Gedichte in der Haft, wie »Die Versuchung«, ein Text voller Sehnsucht nach dem Zuhause. Die Autorin schreibt, sie habe Angst, dass sie alle, die sie liebt, bald verlieren werde. Sie bezeichnet das Leben hinter Gittern als »Erniedrigung zum Tier«, klagt sich an, geschwiegen zu haben. Unter Berufung auf Martin Luther beteuert sie, dass man aus ihren Büchern nicht erfahren werde, »wie grausam, schrecklich es uns ging, wie wir gelogen unverzagt, / Wie bei Verhören wir erzitternd / Uns von uns selber losgesagt.« Zu ihren stärksten Texten gehören das Poem »Februartagebuch« und das »Leningrader Poem«. Im »Februartagebuch« erzählt sie vom unheimlichen Klang des Metronoms im Stadtfunk, der Suche nach Wasser und Brot, klirrendem Frost, Kanonendonner und Granateneinschlag. Sie fühlt sich eins mit Schwestern, Brüdern, Genossen und Freunden und ist überzeugt davon, dass der Tag kommt, an dem die Stadt von der Sowjetarmee befreit wird. In den Versen von 1948/49, der Zeit antijüdischer Kampagnen und des Kampfes gegen den Kosmopolitismus, ist keine Spur mehr von dieser Geisteshaltung. Sie erwecken den Eindruck, als sei der Große Terror zurückgekehrt: »In der Versammlung hab ich den ganzen Tag / Voten angehört, habe abgestimmt und gelogen ...«

Das »Verbotene Tagebuch« der Dichterin aus den Jahren 1939 bis 1942 konnte erst 2010 in Sankt Petersburg erscheinen.

Olga Berggolz: Gedichte 1928-1970. Auswahl, Übersetzung aus dem Russ. und Vorwort von Christoph Ferber. Herausg. und Nachwort Holger Wendland. Mit Zeichnungen von Michael Dobbelt. Edition Raute/Buchlabor. 84 S., br., 12 €.

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