Ihr liebes Gesicht, ihr Winken - die letzten Bilder

Klaus Müller hat die Geschichte von Justin Sonder, Auschwitz-Überlebender, aufgeschrieben

Es beginnt mit einem Traum, besser: Albtraum. Er wird durch seine Geburtsstadt Chemnitz getrieben: »Weiter, weiter! Nicht stehen bleiben!« In der Lindenstraße, im ersten Stock über dem Café »Vaterland«, schaut seine Mutter aus dem Fenster und ruft verwundert: »Junge, was hast du denn für komische Sachen an?« Justin blickt an sich hinunter: Tatsächlich, er steckt in einem blau-weiß gestreiften Drillich. Da ertönt wieder die harsche Stimme: »Weiter, weiter, sonst knallt’s.« Aus einer Seitenstraße winkt der Vater: »Justin, pass auf dich auf!« Der Junge kommt am Schloßteich vorbei, darin kein Wasser, sondern Leichen in Häftlingskluft. »Das sind alles Judenschweine wie du oder Kommunisten oder Sozis oder Russen und Ukrainer«, sagt die kommandierende Stimme hinter ihm. Justin dreht sich um und erkennt den SS-Oberscharführer wieder, der in Leipzig ein Möbelgeschäft hatte und nun ihn und seine Leidensgefährten auf dem Todesmarsch treibt. - Diese fiktiven Bilder, gespeist aus realer Erfahrung, haben Justin Sonder noch Jahrzehnte nach der Befreiung vom Faschismus nächtens heimgesucht.

Es ist eine traurige, anrührende Geschichte, die der Journalist und »nd«-Autor Klaus Müller nach langen Gesprächen mit Justin Sonder aufgezeichnet hat. Ein beeindruckendes Zeugnis der Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten, des Muts, aber auch vielfacher Mutlosigkeit in entmutigenden Zeiten.

Geboren wurde Justin Sonder am 18. Oktober 1925, doch er feiert alljährlich bereits am 23. April - den Tag seiner Wiedergeburt. Als er befreit wurde auf dem Todesmarsch, der ihn von Auschwitz über Sachsenhausen ins KZ Flossenbürg und weiter in den Bayerischen Wald geführt hatte.

Gleichwohl seine Familie seit Generationen in Deutschland lebt und sein Vater freiwillig für das deutsche Kaiserreich in den Ersten Weltkrieg gezogen ist, wird die Familie Sonder nach den Nürnberger Rassegesetzen gebrandmarkt und ausgegrenzt. Justin bekommt den Rassenwahn der Nazis leibhaftig in der Schule zu spüren. Als nach einem Fußballspiel seine Mitschüler ihn als ihren erfolgreichsten Torschützen zur Siegerehrung tragen wollen, brüllt der Direktor: »Seid ihr wahnsinnig geworden, Juden auf den Schultern zu tragen?!« Bald ist Judenkindern auch der Besuch einer »deutschen« Schule nicht mehr gestattet. Justin wird von den Eltern in ein jüdisches Kinderheim in Leipzig geschickt. Ostern 1941, die Deportationen sind angelaufen, ist mit Schule Schluss.

Den Novemberpogrom 1938 erlebt Justin in Chemnitz, die fanatische Begeisterung der Mehrheitsdeutschen für den »Führer« als Kochlehrling in der Reichshauptstadt Berlin. Die Lehre kann er nicht beenden, mit seinen Eltern muss er in Chemnitz in ein »Judenhaus« übersiedeln, wird zur Arbeit in einer Lampenfabrik zwangsverpflichtet. Am 8. September 1942 kommt der »Tag des Abschieds«; Leo und Cäcilie Sonder sind aufgefordert zum »Transport«. Justin ist als »Helfer« mit weißer Armbinde für die »Abfertigung« der zur Deportation in die Lager bestimmten Menschen, darunter die Seinen, eingeteilt. Welch zynische Gemeinheit. Der Veteran erinnert sich: »Was sagt eine Mutter zu ihrem einzigen Sohn in der bösen Vorahnung, dass sie ihn nie wieder sieht, weil sie selbst ins unheimliche Ungewisse fahren muss? Sie hat mir an diesem Morgen viele Hinweise für meine Gesundheit, für den Haushalt und fürs Einkaufen gegeben ... Ihr liebes Gesicht, ihr Winken aus dem Zugfenster sind meine letzten Bilder von ihr.«

Justins einziger, minimaler Trost: Nicht alle Nachbarn und Bekannte sind plötzlich Antisemiten. Der Träger des Gelben Sterns erfährt Sympathiebekundungen auf der Arbeit sowie von einem Arzt und einer Fleischerfamilie.

Am 27. Februar 1943, als nicht nur in Berlin »arische« Frauen unerschrocken die Freilassung ihrer jüdischen Ehepartner fordern, muss Justin auf »Transport«. Sein Zug gelangt am 2. März in Auschwitz an. So viel man auch schon über dieses deutsch-faschistische Vernichtungslager gelesen und gehört hat, die Schilderungen des Justin Sonder gehen unter die Haut, erschüttern und entsetzen. Detailliert berichtet er über schier Unglaubliches, Unbeschreibliches. Aus Justin Sonder wird die Nummer 105 027. »Das wird einmal meine Rentennummer sein, wenn ich wieder zu Hause bin«, bemerkt er spöttisch. Was ein SS-Mann vernimmt, der ihm eine kräftige Ohrfeige verpasst: »Was glaubst du, wie du hier rauskommst? Höchstens als Rauch durch die Esse.«

Justin muss in Monowitz täglich zehn bis zwölf Stunden für die I.G. Farben schuften. Er begegnet Max Brudner, Kommunist und »Kapo«, der bereits das KZ Sachsenhausen hinter sich hat und dem 17-Jährigen hilft, Auschwitz zu überleben. Er lehrt ihn, nicht auf Gott zu vertrauen. »›Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun‹ ... Diesen Weg wollte ich gehen.« Justin Sonder geht ihn nach der Befreiung, wird Mitglied der KPD, während sein Vater wieder der SPD beitritt. Vater und Sohn wollen ein neues, antifaschistisches, sozialistisches Deutschland aufbauen. Leo Sonder stirbt indes bereits 1949, erlebt nicht mehr, wie sein Sohn, jüngster Kriminalist in Sachsen, sich zum Jurastudium an der Humboldt-Universität zu Berlin einschreibt.

Klaus Müller hat die Geschichte von Justin Sonder aufgeschrieben, als wenn dieser sie seinen Enkeln erzählte. Dabei wird viel historisches Wissen vermittelt, über das Wesen des Faschismus, die Täter und Profiteure sowie die vielen, vielen Opfer und die wenigen, dafür umso entschlosseneren Widerstandskämpfer. Bleibt zu hoffen, dass dieses Buch zahlreiche jugendliche Leser findet und Schulklassen den rüstigen 89-Jährigen zum Gespräch einladen.

Klaus Müller/Justin Sonder: 105 027 Monowitz - Ich will leben! Von Chemnitz nach Auschwitz - über Bayern zurück. Nora Verlag, Berlin. 236 S., br., 17,50 €.

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