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Am Ende des Lebens unter Freunden

Ein Dresdner Verein engagiert sich seit vielen Jahren für die Versöhnung einstiger Kriegsgegner

  • Hendrik Lasch, Gohrisch
  • Lesedauer: 8 Min.
Die Dresdner »Gesellschaft zur Hilfe für Kriegsveteranen« sorgt für die Versöhnung zwischen Russen und Deutschen - völlig ehrenamtlich.

Am zweiten Tag ihres zweiten Aufenthaltes in Deutschland steht Nina Petrowna Apjonkina an einem Feldrain bei Gohrisch und schaut über das Elbtal: eine kleine Frau, bald 80 Jahre alt, ein Tuch gegen den kalten Wind um das Haar gebunden. Ein Genosse aus Pirna erklärt die malerische Kulisse des Sandsteingebirges: die filigrane Kette der Schrammsteine, das geschwungene Tal der Elbe. Und wo liegt Moskau?, fragt jemand aus der Gruppe. Hinter dem einzeln stehenden Falkenstein, lautet die Antwort. 1900 Kilometer, immer geradeaus.

In Moskau, genauer gesagt in Lytkarino am südlichen Rand der russischen Hauptstadt, ist Nina Petrowna zu ihrer Fahrt nach Deutschland aufgebrochen. Sie musste dicke Bretter bohren, erzählt sie. Etliche Jahre lang habe sie der Vorsitzenden des örtlichen Komitees der Kriegsveteranen in den Ohren gelegen; nun endlich gehört sie zu einer der Gruppen, wie sie von der Dresdner »Gesellschaft zur Hilfe für Kriegsveteranen in Russland« regelmäßig eingeladen werden. Die alte Dame sei aufgeregt, sagt Dolmetscherin Ljudmila Schirjaeva: Werde sie nach ihrer Geschichte gefragt, gerate alles durcheinander; Erinnerungen drängten auf sie ein. Außerdem, fügt Frau Schirjaeva fast entschuldigend hinzu, »ist sie es nicht gewohnt zu erzählen«.

Ohnehin ist die Rückschau auf ihren ersten Aufenthalt in Deutschland für Nina Petrowna alles andere als angenehm. 72 Jahre liegt er zurück. Dass die Familie - Mutter, Großmutter, fünf Schwestern, zwei Brüder - ihr Heimatdorf Annino im Gebiet Kaluga verließ, geschah nicht aus freien Stücken. Die Deutschen, 1941 in ihre Heimat eingefallen, zwangen sie auf den Marsch, teils zu Fuß, teils in schmutzigen Viehwaggons. Sie erinnert sich an herzzerreißende Szenen nach dem Beschuss durch Flugzeuge: Familien seien getrennt worden; viele Kinder hätten geschrien »wie Tiere so laut«, sagt sie. Nach eines Odyssee, die über Estland führte und während der die Großmutter starb, gelangten sie schließlich nach Deutschland: in die thüringische Stadt Gera, in der die Textilbetriebe nur deshalb noch Uniformstoff in ausreichender Menge produzierten, weil Zwangsarbeiterinnen ausgebeutet wurden - Frauen wie Nina Petrownas Mutter, aber auch Kinder wie sie selbst: Ab 1944 stand auch die noch nicht einmal Zehnjährige in der Fabrik.

Seither ist viel Zeit vergangen; ein langes Leben, an dessen Ende freilich ein Wunsch offen war: Sie wollte Gera noch einmal sehen; die Stadt, in der ihr ein Teil der Kindheit geraubt wurde. Nina Petrowna erinnert sich an ein schönes Haus; vielleicht die Villa eines Fabrikanten. Ob es noch steht? Wer weiß. Auch ob es die Fabrik noch gibt und ob sie diese nach so langer Zeit wiedererkannt hätte, ist ungewiss. Ohnehin ist es leider so, dass sie sich nicht auf die Suche machen kann: Der enge Zeitplan des Besuchs lässt die 140 Kilometer weite Fahrt von Dresden nach Gera nicht zu. Statt dessen steht sie in Gohrisch, dem Kurort, in dem der Komponist Michail Schostakowitsch im Jahr 1960 innere Ruhe in stürmischen Zeiten fand, und erfährt: Deutschland kann auch ein ganz schönes Land sein.

Es ist, wie Nina Petrowna und ihre Mitreisenden früher an diesem Tag erlebt haben, auch ein Land, in dem die Erinnerung an ihre Landsleute von vielen in Ehren gehalten wird. Auf einem Friedhof am Stadtrand von Pirna gibt es eine kleine Gedenkfeier. 126 Sowjetbürger sind hier begraben: Soldaten, KZ-Häftlinge und vier Zwangsarbeiterinnen, zwei davon mit ihren Neugeborenen. Am Obelisk, der vor einiger Zeit aus dem Stadtpark hierher zurück versetzt und bei der Gelegenheit auch restauriert wurde, haben sich gut drei Dutzend Pirnaer eingefunden: Genossen von der LINKEN; Vertreter der NS-Opfervereinigung VVN; die Gründerin einer Initiative, die Kontakte zu Weißrussland pflegt. Gekommen ist auch der Oberbürgermeister von Pirna. Klaus-Peter Hanke begrüßt seine Gäste auf Russisch und fügt an, er wolle sich »beim russischen Volk bedanken für das, was sie zur Befreiung beigetragen haben«. Abgesehen davon, dass zu den Befreiern auch Weißrussen und Ukrainer, Kasachen, Kirgisen und Angehörige anderer Nationalitäten gehörten: Die Gäste aus Moskau und St. Petersburg nehmen die freundliche Begrüßung sehr wohlwollend auf.

Auch für Viktor Maximow ist die kleine Feier auf dem Friedhof ein berührender Moment. Maximow ist der Mann, ohne den die Begegnung nicht zustande gekommen wäre - wie viele andere seit Anfang der 90er Jahre. Damals war Maximow, der 1926 geboren wurde und als junger Mann im Großen Vaterländischen Krieg kämpfen musste, in die Bundesrepublik gekommen. Er suchte Hilfe für die vielen Veteranen, die in der zerfallenden Sowjetunion ein tristes und entbehrungsreiches Leben führten: mit kärglichen Renten und ohne ausreichende medizinische Hilfe. In Dresden traf er Hannelore Danders, die in der DDR Russischlehrer ausgebildet hatte. Gemeinsam riefen sie die »Gesellschaft zur Hilfe für Kriegsveteranen« ins Leben, einen kleinen Verein, der in den gut 20 Jahren seither jedoch Großes leistete. Zunächst wurden viele Hilfstransporte organisiert: mit medizinischem Gerät, Betten, Sanitärartikeln, mit Kleidung. Nutznießer waren ehemalige Soldaten ebenso wie Kinderheime und Einrichtungen für geistig Behinderte.

Die Container gen Osten zu bringen, war ein oft abenteuerliches Unterfangen; es verlangte nicht selten diplomatisches Geschick und Schlitzohrigkeit. 2005 war Schluss: Im Russland von Präsident Wladimir Putin, das sich als Großmacht verstand und nicht als hilfsbedürftig, war derlei humanitäre Hilfe nicht mehr gefragt. Danders schrieb einen Protestbrief an höchste Stelle, der indes nichts fruchtete. Der Verein stellte andere Aktivitäten stärker in den Mittelpunkt. Er hatte bereits seit Anbeginn menschliche Kontakte zwischen den früher verfeindeten Ländern herstellen wollen. Maximow legte Wert darauf, dass auch Gräber von deutschen Soldaten in der früheren Sowjetunion gepflegt wurden. »Schuld sind nicht die Soldaten, sondern Hitler und seine Mitarbeiter«, sagt er auf dem Friedhof in Pirna. Seit einigen Jahren kümmert sich der Dresdner Verein mit seinen 57 Mitgliedern verstärkt um Kontakte zu »Kriegsopfern im weitesten Sinne«, sagt Danders - darunter zu Menschen, die schon als Kinder in Lager verschleppt wurden. Ihre Zahl ist erschütternd hoch: Allein die Moskauer Gebietsorganisation der »Assoziation der ehemaligen minderjährigen Häftlinge faschistischer Lager« hat 11 000 Mitglieder - und das, obwohl die Zahl zuletzt deutlich gesunken ist. Die noch Lebenden sind betagt, viele sind krank oder gar bettlägerig.

Viktor Maximow, Hannelore Danders und ihre Mitstreiter pflegen Kontakte zu diesen Menschen und ihren Vereinigungen. »Wir wollen zeigen, dass es auch Menschen in Deutschland gibt, die sich für ihr Schicksal interessieren«, sagt Danders. Vertreter des Vereins reisen jedes Jahr einmal nach Russland: ins Moskauer Gebiet, nach St. Petersburg oder an den Ural. Sie sprechen bei Veranstaltungen der »Assoziation« - teils große Treffen mit 800 Teilnehmern, darunter als Gäste viele Jugendliche. »Wir sind dort die einzigen Deutschen«, berichtet Vereinsmitglied Jörg-Uwe Laasch, der anmerkt, die Auftritte würden in der Presse wohlwollend registriert.

Daneben lädt der Verein seit einiger Zeit einmal im Jahr eine Gruppe von Veteranen nach Deutschland ein. In diesem Frühjahr sind neben Nina Petrowna noch drei andere Töchter ehemaliger Zwangsarbeiterinnen gekommen: Valentina Alexejewna Abramowa wurde mit neun Jahren nach Chemnitz verschleppt und kam nach der Befreiung in ein Dorf zurück, über das mehrfach die Front gerollt und von dem nichts übrig war. Nadeshda Kusmintschina Kusina und Valentina Alexandrowna Gostischtschewa waren als Zwei- bzw. Dreijährige in Lager bei Roslawl und in Weißrussland deportiert worden. Begleitet wurden die Frauen vom Chef des Veteranenkomitees Serpuchow und von einem Journalisten der »Nowaja Gazeta«.

Die Besuche zu organisieren, ist ein Kraftakt. Danders, 83 Jahre alt, plant Gespräche in Gymnasien und in Rathäusern, Ausfahrten in die Gedenkstätte Zeithain oder zum »Elbe-Day« nach Torgau; sie muss sich um Unterkünfte und Autos samt Fahrer sorgen - und nicht zuletzt um Geld. Der Verein erhält für die Besuche der Veteranen zwar Unterstützung von den beiden Stiftungen »West-östliche Begegnungen« und »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft«. Die Kosten jedoch sind damit längst nicht gedeckt, und Zuwendungen etwa vom Freistaat oder der Stadt gibt es nicht. Im Dresdner Rathaus wurde erst nach viel Hin und Her ein Termin freigeräumt, bei dem die Delegation sich ins Goldene Buch eintragen durfte. Für eine kleine Bewirtung, sagt Danders, habe es freilich nicht gereicht.

Anderswo blitzt Danders mit Hilfsanfragen gänzlich ab. Sie spricht von »Gleichgültigkeit gegenüber Russland«, die sie in Deutschland nicht erst seit der Abkühlung der Beziehungen wegen der Entwicklungen auf der Krim und in der Ukraine beobachtet. Im Land der Befreiten hat man, so scheint es, oft nicht mehr viel übrig für die einstigen Befreier, denen es heute oft schlechter geht als vielen Deutschen. Ein fataler Zustand, klagt Danders: »Man verprellt ein Volk, das Deutschland doch besonders schätzt.« Ihr Mitstreiter Jörg-Uwe Laasch merkt sarkastisch an, in Russland gehe man »mit uns als den Nachkommen der Kriegsschuldigen sehr viel angenehmer um als umgekehrt«.

Dass Nina Petrowna und ihre Mitreisenden von derlei Misstönen wenig merken, liegt freilich daran, dass es auch anders geht: dass es - wie in Pirna - Bürger und Kommunalpolitiker gibt, die aufgeschlossen sind, engagiert und auch dankbar dafür, dass die Frauen zu Versöhnung bereit sind. Für Viktor Maximow, den mittlerweile 89 Jahre alten Initiator der »Gesellschaft zur Hilfe für Kriegsveteranen«, ist das Grund zu Optimismus. »Meine Zeit ist verstrichen«, sagt er auf dem Sowjetischen Friedhof: »Aber ich bin glücklich, dass ich am Ende meines Lebens unter aufrichtigen Freunden bin.« Das scheint ihm wichtiger zu sein als eine weitere Ehrung, die er für sein Engagement erhält. Der Chef des Veteranenkomitees Serpuchow, der in Galauniform erschienene Anatolij Sheleznow, heftet ihm eine Medaille zum 70. Jahrestag der Befreiung an, weil er »Gleichgesinnte vereinigt« habe. Maximow, der sonst selten Deutsch spricht, sagt nur drei Worte - die aber in der Sprache seiner Gastgeber: »Oh mein Gott.«

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