nd-aktuell.de / 14.09.2006 / Politik

Der Rebbe lacht

Zum ersten Mal seit 1940 werden in Deutschland wieder Rabbiner ordiniert

Christina Matte
Heute werden mit einem Festakt in Dresden drei Rabbiner in ihr Amt eingeführt. Angesagt hat sich viel Prominenz, denn der Anlass, zunächst ein geistlicher, ist zugleich ein historischer: Es ist das erste Mal seit 1942, dass in Deutschland wieder Rabbiner ordiniert werden. Dabei handelt es sich um Herrn Dr. Tomá Kucera aus Tschechien, Herrn Malcolm Matitiani aus Südafrika und Herrn Daniel Alter aus Deutschland. Sie alle erhielten ihre Ausbildung am Abraham Geiger Kolleg, das 1999 vom deutschen Verband der Weltunion progressiver Juden gegründet wurde und 2001 mit dem Rabbiner-Seminar an der Universität Potsdam begann. Bis dahin war ein Rabbiner-Studium nur in Israel, Großbritannien, den USA und Ungarn möglich.

Was erzählt werden muss
Das Abraham Geiger Kolleg, öffentlich bislang kaum bekannt, tritt heute ins Licht der Scheinwerfer. Und mit ihm seine Geschichte. Da sich das Kolleg in der Nachfolge der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums sieht, beginnt diese bereits 1872. Erzählt werden muss, dass die von Abraham Geiger gegründete Hochschule im Jahre 1907 in ein eigenes Haus in der Berliner Artilleriestraße 14, heute Tucholskystraße 9, zog. Erzählt werden muss weiterhin, dass sie dort noch bis in den Zweiten Weltkrieg hinein Rabbiner ausbildete - bis zum Sommer 1942. Damals verfügte der nationalsozialistische Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung »im Hinblick auf die Entwicklung der Aussiedlung der Juden« die Schließung sämtlicher jüdischer Schulen in Deutschland. Damit war auch das Ende der Hochschule, die sich schon seit 1934 nur noch »Lehranstalt« nennen durfte, besiegelt.
Erzählt werden muss von den Lehrkräften, unter ihnen Leo Baeck, Julius Lewkowitz, Leopold Lucas, Manfred Gross, Heinrich Gescheit und Dr. Ernst Grumach - die meisten von ihnen wurden deportiert und kamen in Konzentrationslagern um. Wer jener letzte von ihnen ordinierte Rabbi war, kann hingegen nicht mehr erzählt werden - es ist nicht mehr herauszufinden, ungewiss also sein Schicksal. Lediglich auf den Hinweis von Rabbiner Nathan Peter Levinson, einem späten Studenten der Hochschule, darf zurückgegriffen werden. Er schrieb: »Von den damaligen Studenten überlebten nur wenige: außer mir noch drei Kommilitonen.« Wer immer der letzte in Berlin ordinierte Rabbi war, die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er während der Schoa umkam.

Stimmungswandel
Erst vor wenige Tagen stellte sich der Rektor des Abraham Geiger Kollegs, Rabbiner Dr. Walter Homolka, in Berlin den Medien. Der 1964 geborene Homolka ist nicht nur hinsichtlich seiner Bedeutung ein schwergewichtiger Mann, sondern auch körperlich. Er wirkt umgänglich, ja gemütlich. Letzteres dürfte er freilich kaum sein, denn ein gemütlicher Mann bringt es nicht bis an die Bertelsmann-Spitze, nicht zum kaufmännischen Direktor der Verlage Wolf Jobst Siedler und Albrecht Knaus, nicht zum Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland und nicht zum leitenden Mitarbeiter der Deutschen Bank. Zu all dem hat Homolka es gebracht, bevor er das Rabbiner-Seminar ins Leben rief. Ein Rabbiner habe stets mehrere Standbeine, erklärte er, damit er finanziell unabhängig bleibe.
Homolka erzählt wenig von dem, was erzählt werden muss. Es ist nicht sein Thema. Vielleicht zu Recht: Was erzählt werden muss, müssen deutsche nichtjüdische Journalisten erzählen. Sein Thema: Hoffnung. Er erzählt, dass es über 60 Jahre nicht notwenig war, in Deutschland Rabbiner auszubilden - für wen denn? Jetzt schon. Er erzählt von dem Stimmungswandel in der deutschen jüdischen Gemeinde, der Anfang der 90er Jahre einsetzte. Die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion habe gezeigt, dass »man sich hier etwas erhofft und Deutschland nicht mehr nur als das Land sieht, das meine Eltern ermordet hat«. Und sie habe dazu geführt, dass man sich nun wieder als eine große Gemeinschaft erlebe, die ihr religiöses Führungspersonal selbst ausbilde. Damit gewinne das jüdische Leben in Deutschland eine neue Qualität: Rund 100 Gemeinden gebe es nun, für ihre Betreuung stünden bis jetzt 20 bis 30 Rabbiner zur Verfügung, nicht genug. Ihnen orthodoxe Rabbiner aus Israel zur Seite zu stellen, habe sich nicht bewährt. Liberale Rabbiner, wie sie das Abraham Geiger Kolleg ausbildet, seien indes für das wiedererwachende jüdische Leben in Deutschland kompatibel.
Wichtig war es Homolka auch, die veränderte Sicht der jüdischen Weltgemeinschaft auf Deutschland zu betonen. Man sehe, dass »sich hier etwas Lebendiges entwickelt«. So dürfe man zur Ordination auch zahlreiche Gäste aus den USA und aus Israel begrüßen, die den Anlass »als Zeichen beginnender Normalität« werteten. Zumal das Potsdamer Kolleg nicht nur Rabbis für Deutschland heranziehe, sondern Rabbis, »die in der ganzen Welt arbeiten können«. Homolka selbst hat sein Rabbinerstudium noch in London absolviert. Kostenpunkt: hundert- bis hundertfünfzigtausend Dollar. Mit dem Abraham Geiger Kolleg werde Männern und Frauen ein Rabbinerstudium ohne finanzielle Probleme ermöglicht - mit bezahlbaren Studiengebühren sowie mit Stipendien, welche der Zentralrat der Juden in Deutschland sowie Stiftungen vergeben. Allerdings halte sich die Zahl der Studierenden in Grenzen, nach der heutigen Oridination werden es noch zehn sein. Dies habe unter anderem mit hohen Auswahlkriterien zu tun, aber auch damit, »dass Mütter es nicht so gerne sehen, wenn ihre Söhne Rabbiner werden. Sie können sich andere Lebenswege für sie vorstellen, zum Beispiel, dass sie das elterliche Geschäft übernehmen«.

Rabbiner
»... wie ein seltenes Auto«
Dr. Tomá Kucera, Malcolm Matitiani und Daniel Alter, die heute ordiniert werden, sind also nicht nur aus historischer Sicht etwas Besonderes: Sie bringen mit, was selten geworden ist - Idealismus. Außer Matitiani, der sich noch in Südafrika befand und nach der Ordination sein Amt in Kapstadt ausüben wird, traten auch sie vor wenigen Tagen in Berlin den Medien gegenüber.
Kucera, ein schmaler ernsthafter Mann, ist 36 Jahre jung. Er studiert in Brno Biochemie, promovierte in Göttingen, absolvierte ein Postdoktorat in Nashville und begann seine jüdischen Studien in Jerusalem. Drei des insgesamt fünf Jahre dauernden Rabbinerstudiengangs lernte er in Potsdamer Hörsaalen. Nach seiner Ordination wird er als Rabbiner nach München gehen. Seine Aufgaben sieht er darin, zunächst alle 250 Gemeindemitglieder persönlich kennen zu lernen und »auch die vielen Juden, die nicht in die Synagoge gehen, zu erreichen«. Alter definiert seine künftigen Aufgaben ähnlich. Er studierte Judaistik und Pädagogik in Heidelberg, war Lehrer am Jüdischen Gymnasium in Berlin und Leiter der Zionistischen Jugend in Leipzig. Demnächst wird er die Gemeinden in Oldenburg und Delmenhorst betreuen.
Anders als Homolka mochten beide noch nicht von einer »Normalisierung« sprechen. Kucera formulierte vorsichtiger: »Wir stehen im Zentrum einer Entwicklung, die Folgen haben wird.« Warum will er, der Tscheche, ausgerechnet in Deutschland arbeiten? Auf die Frage, ob er in der Schoa Angehörige verloren hat, erlosch das Lächeln in seinem Gesicht. »In Deutschland zu arbeiten«, sagte er dann, »ist für mich weniger problematisch als beispielsweise in Polen. Dort wurden Juden noch ermordet, als sie aus den Konzentrationslagern kamen.«
Kucera und Alter trugen während des Termins Kippas. Auf der Straße tragen sie die nicht. »Mit Kippa wird man angeschaut wie ein seltenes Auto«, erklärte Alter, »das ist unangenehm.« Den angehenden Rabbinern ist das »gefährliche Potenzial« in Deutschland bewusst. Aber auch sie träumen einen Traum. Den Traum von der Normalität, von der alle wissen, dass es sie nicht gibt, noch nicht geben kann. Geschichte mag Geschichte sein, aber sie hat Folgen. Auch in anderen Teilen der Welt, wie die Menschen dort täglich erleben müssen. Normalität, man darf sie ersehnen und gestalten; das ist Aufgabe von Politik. Deutsche Politik leistet das, aus historischer Verstrickung und zuweilen noch ererbter Blindheit, immer noch nur unzureichend. Daran ändert auch die heutige Anwesenheit politischer Prominenz in Dresden nichts. Zumindest ist sie ein Zeichen.