Zentralorgan fürs Sexualorgan

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 2 Min.
Gerhard Henschel hat ein Buch über die »Bild«-Zeitung geschrieben. Kernstück seines »Gossenreports« ist ein Aufsatz, der Ende 2005 im »Merkur« erschien, von der »Tageszeitung« nachgedruckt wurde und hier wie da für ein positives Leserecho sorgte. »Bild« verletzte pausenlos die Menschenwürde, sei ein minderwertiges Skandalblatt, ihr Chefredakteur »ein Subjekt, das aus den Schamhaaren von Göttergatten Korrespondentenberichte entgegennimmt«, »Bild« also ein »Sexualorgan«, dessen »geistiger und moralischer Kretinismus« ganz Auweia ist und überhaupt die Sexanzeigen. »Endlich sagt es mal einer«, lässt sich Henschel stellvertretend vom ideellen Gesamtleser auf die Schulter klopfen. Endlich? Kritik am erfolgreichen Flaggschiff des Springer-Konzerns ist nicht gerade eine Innovation. Ende der 60er Jahre forderten die Studenten sogar »Enteignet Springer!« Die Parole macht den Unterschied: Wo Henschel die moralische Verkommenheit des lesenden Lumpenproletariats und seiner schreibenden Voyeure vorführt, hatte man damals noch eine politische Alternative parat - auch wenn die Verhältnisse nicht danach waren. Heute geht eine ernste Bedrohung für den Konzern nur noch von den Medienkontrolleuren der KEK aus, die, so warnte Ende 2005 die »Frankfurter Allgemeine«, nun den alten Traum der 68er in die Tat umsetzen wolle. Henschel dagegen fragt zart an, ob nicht der »Staat gewaltsam einschreiten« sollte, um dem »Bild«-Chefredakteur einmal deutlich zu verstehen zu geben, »dass es so nicht geht«. Zur Not müsse »ein Kulturvolk« wie die Deutschen eben den »Sittenverderber Kai Diekmann und alle seine Bauchredner ächten«. Es ist ein Jammer: Heute ist schon ein erhobener Zeigefinger gegen einen leitenden Angestellten Widerstand; damals mussten dafür noch Auslieferungswagen brennen. Die »Betriebsgeheimnisse der Bild-Zeitung« lesen sich trotzdem vortrefflich. Derlei Lob steht hier nicht, weil in Henschels Buch im Vergleich mit dem Springer-Blatt sogar das »Neue Deutschland« besser wegkommt. Der »letzte Hort bürgerlicher Wohlanständigkeit« will diese Zeitung nämlich zumindest heute gar nicht mehr sein. Gerhard Henschel: Gossenreport. Betriebsgeheimnisse der Bild-Zeitung, Edition Tiamat, Verlag Klaus Bittermann Berlin, 14 Euro.
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