Schäumender Volkszorn auf Münchens Straßen

Vor 20 Jahren demonstrierten 25 000 Menschen für die Bewahrung der bayerischen Biergartentradition

  • Sabine Dobel, München
  • Lesedauer: 3 Min.
Auch eine Freiheit: bis 23 Uhr im Biergarten zu sitzen. Vor 20 Jahren schien es kurzzeitig, als sei es damit vorbei. Doch der Protest gegen die Einschränkung der Öffnungszeiten war erfolgreich.

Weltweit gehen Menschen für den Frieden auf die Straße. Für bessere Arbeitsbedingungen. Gegen Atomkraft. Gegen Rechts. Oder gegen das Freihandelsabkommen TTIP. Manchmal gibt es aber auch andere, offenbar wichtige Gründe. Etwa das Recht auf die späte Maß im Biergarten. Rund 25 000 Menschen demonstrierten am 12. Mai 1995 in München gegen Einschränkungen bei den Öffnungszeiten - es war der Tag der »Biergartenrevolution«.

Nachbarn der traditionsreichen Waldwirtschaft in Großhesselohe vor den Toren Münchens hatten sich vom Lärm belästigt gefühlt und eine Schließung um 21.30 Uhr verlangt. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof gab ihnen Recht. Auch anderen Biergärten drohte damit eine solche Entscheidung.

»Da ist es im Sommer ja noch heller Tag«, sagt die Präsidentin des Vereins zur Erhaltung der Biergartentradition, Ursula Seeböck-Forster. »Das hätte einen Dominoeffekt gegeben.« Aus ganz Bayern seien die Menschen gekommen und hätten protestiert.

Es war ein Aufstand auch gegen missgelaunte Bürger ohne Sinn für Tradition. Welcher brauchtumsbewusste Münchner würde sich schon an dem summenden Gemurmel und gelegentlichem Maßkrugklirren stören. Tatsächlich belästigte die Anwohner vor allem der späte Autoverkehr.

»Nachbar will totales Biergartenverbot« und »Rettet die Biergärten«, titelten Zeitungen. Der Volkszorn schäumte. Wütend zogen die Demonstranten vom Marienplatz zur Staatskanzlei, an die 100 000 Unterschriften im Gepäck, stilecht begleitet von Blasmusik, Kuhglockengeläut und markigen Worten. »Jeder weiß vorher, wo er ein Haus baut oder eine Wohnung mietet«, rief der damalige CSU-Chef und Bundesfinanzminister Theo Waigel. »Man kann auch nicht ein Grundstück am Bahndamm kaufen und dann den Zugverkehr verbieten lassen.«

Politiker versprachen, sich für eine Gesetzesänderung einzusetzen. Nur eine Woche später sagte der damalige Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) den »lieben Revolutionären« eine Biergarten-Verordnung mit Öffnungszeiten bis 23 Uhr zu. Grenzwerte für Lärm wurden festgesetzt - je nach Gegend zwischen 55 und 65 Dezibel.

20 Jahre später feiern die Biergartenfans ihren Erfolg. »Ein Biergarten in einer Großstadt hat eine sehr soziale Funktion - weil man das Essen mitbringen darf«, sagt Seeböck-Forster. »Wo sollen die Familien mit Kindern, die in einer Dreizimmerwohnung sitzen, sonst hingehen und preiswert essen?«

Nach der gut 200-jährigen Biergartentradition müssen nur die Getränke beim Wirt gekauft werden. Anfang des 19. Jahrhunderts entdeckten Brauer den Ausschank über ihren Bierkellern im Schatten der Kastanien zunehmend als Geschäft. Sie gerieten in Zank mit den Gastwirten, denen die Gäste wegblieben - bis König Max I. am 4. Januar 1812 per Erlass für Frieden sorgte. Er erlaubte den Brauern, über ihren Bierkellern Bier auszuschenken. Zugleich verbot er den Verkauf von Speisen. So brachten die Gäste ihr Essen kurzerhand mit.

Aus der Gewohnheit wurde Tradition. Mancher Tourist staunt, wenn Einheimische ihre eigene Tischdecke entfalten, Geräuchertes, Käse und Rettich, Salzstreuer und Besteck ausbreiten und gar Kerzchen anzünden.

Zeitweise drohte der Tradition neue Gefahr: Facebook-Verabredungen zu Biergartenpartys mit 200 Leuten, die Tische kurzerhand zusammenstellten - oder Neu-Münchner, die sich per Lieferservice Pizza unter die Kastanien bringen ließen. Die Wirte schritten ein.

»Eine Facebook-Verabredung ist ja ok. Aber ein Biergarten ist keine Party«, sagt Seeböck-Forster. Und ein Lieferservice gehe einfach zu weit. Ansonsten seien Pizza, Döner oder Sushi zwar nicht gerade das, was man im Biergarten verzehre. »Ich geh' auch nicht zum Italiener und esse einen Schweinsbraten.« Aber in Bayern gelte »leben und leben lassen«. Somit: »Letztendlich kann jeder essen, was ihm schmeckt.« dpa/nd

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