Lernsoftware statt Naturerlebnis

Förderwahn beginnt schon im Vorschulalter

  • Detlef Träbert
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Trend ist unübersehbar: Kinder werden gefördert auf allen Kanälen und allen Ebenen. Der Integrationsminister Nordrhein-Westfalens (NRW), Erwin Laschet (CDU), rechnet mit 80 000 Kindern pro Jahrgang, die nach dem neuen Schulgesetz jährlich vor dem Schuleintritt im Kindergarten eine Sprachförderung erhalten werden. »Kinder brauchen Förderung, vor allem von Wahrnehmung, Konzentration und Kreativität«, bewirbt ein Großhändler im Internet für diverses Fördermaterial. Woher kommt nur diese Hochkonjunktur für Lernförderung im Vorschulalter?
Es geht in erster Linie um Zukunftschancen - einerseits für unsere Kinder, andererseits für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Die PISA-Panik hat den Gedanken geprägt: Fördern - so früh wie möglich, um kein »Zeitfenster der Entwicklung« zu verpassen und die Grundlagen für das spätere schulische Lernen zu optimieren. In der Tat braucht unsere heutige Kindergeneration sehr viel mehr Förderung als frühere. Kinderärzte, Psychologen und Schulpraktiker weisen seit Jahren immer wieder auf diesen Besorgnis erregenden Trend hin. Aber was ist seine Ursache?

Bewegungsarme Couch Potato
Die Lebenswelt und die Lebensweisen von Kindern haben sich derart verändert, dass Soziologen von einer »neuen Kindheit« sprechen. Die beispielsweise vor 50 Jahren gefahrlos erreichbaren natürlichen Spielflächen, Wiesen und Wälder, sind - zumindest für Stadtkinder - verschwunden. Parkplatzflächen haben in der Bebauungsplanung einen höheren Stellenwert als Spielflächen, und wenn Spielflächen in einem Neubaugebiet angelegt werden, sind sie meist steril und als Anreiz zum Abenteuer, zur Kreativität, ungeeignet. Kein Wunder also, dass Kinder immer weniger rausgehen zum Spielen und sich immer weniger bewegen. Gleichzeitig bieten sich die Massenmedien, vor allem das Fernsehen, sowie die elektronischen Spiele als Lückenbüßer an. »Warum soll ich rausgehen? Mit dem Gameboy ist es viel schöner!«, sagt so manches Kind und entwickelt sich zur Couch Potato.
Die freie Natur ist jedoch der unverzichtbare Entwicklungshelfer für Kinder. Das Gehirn wird durch die Sinnesreize angeregt, die es erreichen. Eine natürliche Umgebung bietet allen Sinnesorganen Stoff zur Verarbeitung an. So werden der gesamte Wahrnehmungsapparat und die sensorische Integration ganz natürlich gefördert. Zudem wachsen immer mehr Kinder ohne Geschwister auf und erleben erst im Kindergarten die anregenden Einflüsse von Spielkameraden. Wie toll Kinder miteinander spielen, wie kreativ sie in der Gemeinschaft sein können, kann man besonders gut sehen, wenn sie einige Wochen einen »spielzeugfreien Kindergarten« erleben dürfen. Dann wird aus den Rivalen um die Bauecke oder den Sandkasten rasch eine solidarische Spielgemeinschaft, die sich gemeinsam Spiele ausdenkt, Regeln vereinbart und die ureigenste Kindereigenschaft wiederbelebt, aus allem ein Spiel machen zu können.

Be-Greifen kommt von Anfassen dürfen
Doch leider ist das Freispiel, ob mit oder ohne Spielzeug, erheblich bedroht, denn auch in Kitas hält der PC Einzug. Was der auf dem Bildschirm zeigt, können Kinder aber nicht anfassen, beschnuppern oder in den Mund stecken - und es ist nur zwei- statt dreidimensional. Kinder können es nicht in die Hand nehmen und damit hantieren. Be-Greifen kommt von Anfassen dürfen. Pestalozzi wusste schon vor rund 200 Jahren um die Bedeutung von »Kopf, Herz und Hand«. Die Gehirnforscher von heute beweisen uns, wie wichtig die kleinkindlichen Erfahrungen auf allen Ebenen der Sinneswahrnehmung und Bewegung für die Entwicklung der Leistungsfähigkeit des Gehirns sind. Erst wenn die Wahrnehmungsentwicklung ausgereift ist, schaden Bildschirmmedien der biologischen Lernfähigkeit nicht mehr.
Aber überprüfen wir zuerst unser Bild vom Kind: Auch mit Förderbedarf ist es schon ein vollwertiger Mensch! Allzu leicht entwickelt es Selbstwertprobleme, weil es spürt, dass es nicht »richtig«, nicht »gut genug« ist, wenn wir es ständig fördern und therapieren. Wir können auch nicht aus jedem Kind alles machen; Menschen haben - Gott sei Dank - Grenzen. Zukunftsträume in Bezug auf den Nachwuchs müssen sich ans Kind anpassen, nicht umgekehrt. Sinnvolles Fördern setzt bei den Sinnen an und hat ein Maß, das sich am Kind und seinen Bedürfnissen orientiert, nicht an gesellschaftlichen Soll-Vorstellungen.

Unser Autor ist Diplom-Pädagoge und Vorsitzender der Aktion Humane Schule e.V.
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