Noch obsiegt Stillstand

Hellerau: Kampf um Human Rights mit »Human Writes«

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.
Als die Vereinten Nationen im Dezember 1948 ihre »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« formulierten, da hatten sie, so die Präambel, »das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal« fixiert. Von Würde und Rechten des Menschen als Grundlagen für Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden handeln die 30 schönen Artikel, feiern die Gleichheit von Mann und Frau jeder Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, verurteilen Sklaverei, Folter, Willkür, Verweigerung von Asyl, Arbeit, Bildung. Knapp 60 Jahre nach feierlicher Annahme jener »Human Rights« ist die Welt von deren Einhaltung mindestens ebenso weit entfernt wie zur Zeit der Niederschrift, leuchtet jenes Ideal winzig klein in unerreichbaren Fernen. Auch wenn die Kunst diesen Zustand kaum verändern kann, ist es löblich, ihn wenigstens sinnlich erfahrbar zu machen. Das tun in Dresden William Forsythe und seine durch Studenten der Palucca Schule aufgestockte 18-köpfige Company mit einer Performance-Installation im eben eröffneten Festspielhaus Hellerau. Am Eingang zum Theatersaal hängen die Menschenrechts-Artikel als Ausgangspunkt der dreistündigen Veranstaltung. Nach hinten verteilen sich unter technisch verstrebter Decke und zylinderförmigen Lampen in dem hohen, sonnendurchfluteten Raum mehrere Reihen metallener Tische, die 40 Akteuren als ungewöhnliche Arbeitspodien dienen. Weißes Papier darauf zeigt anfangs nur grob skizzierte Schrift: jenen Wortauszug aus den »Human Rights« in seiner Muttersprache, dem der jeweilige Tänzer mit Kohle klare Kontur geben will. Damit das qualvolle Ringen um jedes einzelne Recht sichtbar wird, dürfen die Akteure nur im Widerstand gegen eine selbstgewählte Art der Behinderung anschreiben. »Human Writes«, dies der Titel, steht somit spitzfindig als performatives Sinnbild politisch und individuell asymptotischen Bemühens. So erzeugt jemand durch beständiges Fallenlassen seines Kohlestifts auf die Vorskizze eine pointillistische Punktelandschaft, ein anderer hält den Stift in der Hand und stößt ihn mit dem Gegenarm als mechanischer Schreibeinrichtung strichweise vorwärts. Eine Frau liegt bäuchlings auf dem Tisch und produziert, die ständig wegkippende Kohle unterm Ellenbogen, kaum erkennbare Zeichen. Andere stehen mit dem Rücken zum Tisch und schreiben hinter sich, malen vorwärts blind, mit Hilfe von Mund oder Fuß. Einer liegt im Schulterstand, die Beine überm Kopf, und sucht mit dem Mund die Kohle zu dirigieren, ein nächster dreht sie wie einen Kreisel, hält sie eingeklemmt zwischen den Ellenbogen oder in der Achselhöhle, lenkt sie eingeknotet zwischen den Bändern seiner Knickerbockers. Durch Zerschaben zweier Stifte aneinander entstehen hingeträufelte Buchstaben, bis ein Windhauch den Staub übers Blatt weht und allen Erfolg vernichtet. Aufrauhen des Papiers mit der Zunge führt ebensowenig zu dauerhafter Schrift wie Schreiben durch klemmende Beine hindurch. Forsythe, zusammen mit Kendell Thomas Initiator der humanitären Aktion und auch selbst beteiligt, liegt rücklings auf seinem Tisch und ruckt gleich mehrere Stifte zwischen Zehen und Fingern. Kaum hörbarer Klang hängt über dem Geschehen, das durch seine hämmernde, klopfende Eigenakustik an die Emsigkeit einer Manufaktur erinnert. Die Zuschauer sind ausdrücklich gebeten, den Akteuren zu helfen: durch Führen ihrer in verquerer Haltung kritzelnden Arme oder Körper. Zunehmend intensiver, erregter, absurder geraten die Versuche. Gesicht, Kleidung, Papier schwärzen sich im Eifer, Tische stürzen, die Ordnung eines Schreibbüros löst sich in Chaos auf, anfängliche Statik in choreografierte Dynamik. Am Ende der dritten Stunde ist im vergeblichen Ansturm auf die Idee die Idee selbst verlorengegangen. Jemand deklamiert unhörbar, Tische türmen sich, Menschen liegen erschlagen von der guten Absicht unter ihnen, kämpfen verknäult miteinander, sind durch Stricke zu unfähigen kinematischen Schreibapparaturen verknüpft. Das komplizierte System ist nicht mehr beherrschbar, das Experiment erstarrt in Stillstand und getriebehafter Selbstläufigkeit. Der schwierige Akt, elementare Rechte zu realisieren, bleibt indes als Aufgabe.
#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal