Mit Büchern ins Helle

Vor 250 Jahren wurde Karl Philipp Moritz geboren

Es gibt kein Grab und kein Museum. Nirgendwo ein Denkmal. Er kam am 15. September 1756 in Hameln zur Welt, aber wo das Geburtshaus stand, ist unbekannt. Das Grab in Berlin existierte schon im vorigen Jahrhundert nicht mehr. Goethe nannte ihn seinen »jüngeren Bruder«, Jean Paul, der ihm den Durchbruch verdankte, rühmte ihn mit enthusiastischen Sätzen, ebenso E. T. A. Hoffmann oder Varnhagen von Ense, doch die Nachwelt hörte darüber hinweg. Karl Philipp Moritz, der sich aus tristen Verhältnissen empor gearbeitet hat, Autor eines der großen, erstaunlich frisch gebliebenen Romane des 18. Jahrhunderts, war ihr allenfalls eine Fußnote wert. Das Werk nahezu vergessen. Eine erste Sammlung, zwei Bände stark, erschien, man glaubt es kaum, 1973 in der Bibliothek deutscher Klassiker des Aufbau-Verlages. Da war Moritz schon 180 Jahre tot, und Herausgeber Jürgen Jahn schloss seinen einführenden Aufsatz mit der Bemerkung, Persönlichkeit und Werk dieses Mannes seien »bis heute wenig bekannt, kaum genügend erforscht«. Die Edition war ein Signal. Ihr folgten eine dreibändige Ausgabe im Insel-Verlag, Frankfurt/Main (1981), und schließlich die bislang beste, umfassendste Auswahl im Deutschen Klassiker Verlag (1997/99), dazu Einzelpublikationen und viele, sogar erstaunlich viele wissenschaftliche Untersuchungen. Sein Name, darf man hoffen, ruft heute kein bedauerndes Achselzucken mehr hervor, aber ein paar Leser mehr könnte dieser liebenswürdige Autor immer noch gebrauchen. In seinem Roman »Anton Reiser«, einer nur wenig verschlüsselten Autobiografie, die man gern als Gegenstück zu Goethes »Dichtung und Wahrheit« sieht, hat Moritz erzählt, wie er sich, geboren als Sohn eines armen Militärmusikers, mühsam durchs Elend seiner frühen Jahre kämpft. Die Kindheit in Hannover trüb und perspektivlos, eingehüllt in die pietistischen Glaubenssätze des Vaters. Was macht so einer mit seiner Sehnsucht, das lausige Dasein hinter sich zu lassen? Er könnte rebellierend um sich schlagen, aber er tut's nicht. Dieser Junge bleibt ganz still. Er flieht in die Literatur. Fängt an zu lesen und verschlingt Roman um Roman, ein Süchtiger, der sich in seinem Schicksal nicht einrichtet, nicht in der Hutmacherlehre, nicht im Theologiestudium. Schauspieler möchte er sein, nichts anderes. Der Traum beherrscht seine Tage und Nächte. Anton Reiser, das andere Ich, ist am Ende des vierten Teils dabei, sich den heißen Wunsch zu erfüllen. Zu Fuß macht er sich auf den Weg von Erfurt nach Leipzig, um die Bühne zu erobern. Als das geschrieben wird, hat Moritz sich schon einen Namen gemacht. Mit der Schauspielerei hat es nicht geklappt. Also ist er Lehrer geworden, hat pädagogische, sprachwissenschaftliche und moralphilosophische Schriften verfasst, das »Magazin zur Erfahrungsseelenkunde« gegründet, eine Zeitschrift der aufgeklärten Psychologie, und schließlich hat ihn sein Weg 1786 nach Rom geführt. Dort trifft er Goethe, sie verkehren wie sehr enge Freunde, und als Moritz eines Tages vom Pferd stürzt und sich verletzt, ist Goethe zur Stelle, um ihn zu pflegen. 1788, zurück aus Italien, wohnt Moritz noch zwei Monate im Haus am Frauenplan, dann geht er, vermittelt vom Weimarer Herzog, nach Berlin. 1789 wird er dort Professor und Hofrat, am Ende auch Mitglied der Akademien der Künste und der Wissenschaften. Ein erstaunlicher Mann, Pädagoge, Psychologe, Theologe, Philosoph, Linguist, Altertumskundler, Übersetzer, Theaterkritiker, Journalist, Schriftsteller. In wenigen Jahren, Moritz stirbt schon mit 36, ein reiches und außerordentliches Werk: neben dem »Anton Reiser« der Roman »Andreas Hartknopf« und die »Reisen eines Deutschen in England», dazu ästhetische und psychologische Schriften, Predigten, Reflexionen über Sprache, Aufsätze über Freimaurerei. Einen Eindruck von alledem vermittelt »Das Karl Philipp Moritz-ABC«, ein von Lothar Müller klug zusammengestelltes Büchlein mit Passagen aus dem Werk. Man kann diese Auswahl nicht hoch genug schätzen: Sie rückt jenen Moritz ins Zentrum, den man heute am wenigsten kennt, den originellen Denker und wunderbaren Beobachter des Menschen. Das größere Interesse beansprucht ja immer noch der »Anton Reiser«. Alexander Koenina hat soeben in einer intelligenten Studie die Schritte beschrieben, die zu dem Roman geführt haben, für Moritz-Kenner sicherlich die anreg...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.