Kein Warten auf bessere Zeiten

  • Matthias Höhn
  • Lesedauer: 4 Min.
Wir sind als Mitglieder aufgerufen, eine Diskussion über die Programmatik einer neuen Linken zu führen. Auch unser Landesverband hat sich dieser Aufgabe verschrieben. Vieles von dem, was wir an Positionen in unserem Leitantrag für den Landesparteitag formuliert haben, ist nicht erst gestern entwickelt worden, sondern Ergebnis eines langen Prozesses. Seit mehr als drei Jahren führen wir eine intensive Debatte über unsere Zukunftskonzepte. Nähert man sich der Frage, was eine neue Linke in der Bundesrepublik inhaltlich ausmachen soll, kommt man zunächst an den Punkt zu definieren, wie es um das Selbstverständnis der Linken steht, welche Rolle sie sich selbst in dieser Gesellschaft zumisst. Eine oft vorgetragene Herangehensweise ist: Wir sind die einzige antineoliberale Kraft in der Bundesrepublik, die sich allen neoliberalen - damit insgesamt allen - politischen Parteien entgegenstellt. Diese selbst verordnete Ausgrenzung ist für eine zukunftsfähige Linke eine unzureichende Selbstdefinition. Sie erinnert an das berühmte gallische Dorf, das sich - umzingelt vom Bösen - tapfer gegen eine unglaubliche Übermacht zur Wehr setzt. Im Gegensatz zum Comic gibt es in der Realität ein großes Dilemma: Wir haben keinen Zaubertrank! Wir sind, und so haben wir es formuliert, davon überzeugt, dass sich die Linke zuerst aus ihrer eigenen inhaltlichen Stärke heraus definieren muss, aus ihrem gesellschaftsverändernden Anspruch, nicht aber durch die Abgrenzung anderen gegenüber. Die Linke muss sich der Gesellschaft zuwenden, mit offenen Augen und auch offenem Herzen. Sie muss sich als Teil dieser Gesellschaft verstehen, nicht als etwas völlig Außenstehendes. Wenn die Linke mit diesem Selbstverständnis agiert, wird sie auch in der Lage sein, im Sinne ihrer Programmatik nachhaltig Wirkung zu entfalten, in politische Entscheidungsprozesse einzugreifen, sie wird fähig sein, sich dem politischen Wettbewerb mit eigenen Vorstellungen zu stellen und um Mehrheiten zu werben. Die (teilweise) Übernahme unserer Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn durch andere Parteien zeigt dies sehr deutlich. Manche werden einwenden, dies sei der viel kritisierte »Pragmatismus«, der wenig mit unserem linken Anspruch zu tun habe. Im Gegenteil. Gesellschaft zu verändern kann nicht bedeuten, auf bessere Zeiten zu warten oder darüber zu klagen, dass sie noch nicht anbrechen. Gesellschaft verändern zu wollen setzt aktives Intervenieren in gesellschaftliche Prozesse voraus. Wenn wir demokratischen Sozialismus als Weg, Ziel und Wertesystem verstehen, dann trifft dies genau den Kern unseres Anliegens. Wir wollen als Linkspartei mit realistischen, finanzierbaren und funktionalen Konzepten Politik gestalten und Gesellschaft verändern. Jeder reale Schritt in die richtige Richtung ist wichtiger als alle politischen Bekenntnisse. Wer sich dieser Herausforderung stellt, muss zur Kenntnis nehmen und es zu seinem Ausgangspunkt machen: Unsere Gesellschaft befindet sich in einem tiefgreifenden Umstrukturierungsprozess. Wir sind mit einem umfassenden Strukturwandel von der Industriegesellschaft zu einer wissensbasierten Produktion konfrontiert. Darauf müssen wir reagieren. Daher kann es nicht darum gehen, etwas zu bewahren oder gar wiederzubeleben, was einmal gut war oder zumindest so beurteilt wurde. Es wird nicht zu bewahren sein. Ein Aufgreifen von Konzepten vergangener Jahrzehnte verkennt, dass sie kaum noch über funktionierende Anknüpfungspunkte in der Gesellschaft verfügen. Die Ausweitung des Welthandels, die Entwicklung globaler Finanzmärkte, die Zunahme von Migrationsbewegungen basieren u.a. auf der Zunahme der internationalen Arbeitsteilung und der Herausbildung eines internationalen Arbeitsmarktes. Konzepte der 1970er oder 1980er Jahre werden dieser Situation nicht gerecht. Im Gegenteil, ihre - damals durchaus funktionierende - Orientierung auf einen nationalstaatlichen Rahmen birgt z.B. die Gefahr eines überbordenden Protektionismus in sich. Der Reflex »Erst wir, dann alle anderen« wäre nicht weit und würde denen in die Hände spielen, die es gemeinsam zu bekämpfen gilt. Seit geraumer Zeit stehen nicht zuletzt darum für die Linkspartei in Sachsen-Anhalt Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie im Zentrum - aus zweierlei Gründen. Zum einen bestimmen Bildung und Ausbildung in immer stärkerem Maße die soziale Perspektive jeder und jedes einzelnen. Zum anderen hängt Produktivkraftentwicklung in neuer Qualität von Wissenschaft und Innovation ab. Und schließlich sind beide Dinge eng miteinander verknüpft. Die Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft misst sich auch an einem Mehr an sozialer Sicherheit. In unserem Leitantrag, der ein Beitrag zur programmatischen Debatte sein soll, wird eine ganze Reihe von Feldern berührt, lediglich auf eines kann ich hier noch zu sprechen kommen: die öffentliche Daseinsvorsorge. Diese ist in unserem Verständnis die Sicherung der Grundlagen einer bestimmten Qualität des Zusammenlebens. Ihr Ziel ist die Sicherung eines individuellen Existenzminimums und einer bestimmten ökonomischen, sozialen und kulturellen Infrastruktur. Die Gewährleistungspflicht des Staates besteht also darin, dafür Sorge zu tragen, dass Daseinsvorsorge realisiert wird - nicht aber unbedingt, dies selbst zu tun. Die Kita in freier Trägerschaft ist durchaus kein Abweichen vom linken Weg, wenn sicher gestellt wird, dass für sie die gleichen Qualitätsstandards wie für kommunale Einrichtungen gelten und der Zugang nicht sozial beschränkt wird. Mancher mag dies »gewandeltes Staatsverständnis« nennen; meines Erachtens korrespondiert es mit unserer alten Forderung nach einer starken Zivilgesellschaft. Wir sind davon überzeugt, dass es uns gemeinsam gelingen wird, eine starke Linke in Deutschland dauerhaft zu etablieren, wenn wir nicht nur nach innen einen offenen Dialog über unsere Werte und Ziele führen, sondern auch Offenheit gegenüber dieser Gesellschaft ausstrahlen und leben.
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