nd-aktuell.de / 13.05.2015 / Kultur / Seite 12

Hundert Prozent Wahlbeteiligung

Der Nachfolger von Sir Simon Rattle als Chef der Berliner Philharmoniker wurde - erfolgreich - nicht bestimmt

Martin Hatzius

Für Berufshektiker war es eine Tortur. Wer unter Termindruck steht, wie wir Journalisten, der hasst das Warten. Für den frühen Montagnachmittag hatten die Berliner Philharmoniker die Bekanntgabe ihres Wahlergebnisses angekündigt. Sie hatten sich am Morgen zusammengefunden, um in geheimer Abstimmung einen Nachfolger für ihren Chefdirigenten und künstlerischen Leiter Sir Simon Rattle zu benennen. Rattle, der die Philharmoniker seit 2002 führt, gibt sein Amt 2018 planmäßig auf. Bereits 2017 wird er - parallel zu seiner Berliner Tätigkeit - als Chefdirigent des London Symphony Orchestra antreten.

Nach einiger Zeit riefen die Musiker die nervös und zahlreich herbeieilende Presse zu ihrem zunächst geheimgehaltenen Versammlungsort, der Jesus-Christus-Kirche in Dahlem. Unter Rattles Vorgängern Wilhelm Furtwängler (1952-1954), Herbert von Karajan (1954-1989) und Claudio Abbado (1989-2002) war der Sakralbau ein vom Orchester gern genutzter Ort für dessen Einspielungen. Jedoch wurde nun keiner der heiß gehandelten Nachfolger im Rattle-Battle bekanntgegeben, sondern lediglich die Verzögerung der Entscheidung. So ging das den ganzen Nachmittag. Nach nahezu zwölf Stunden, in denen diskutiert und offenbar in mehreren Wahlgängen abgestimmt wurde, gab es dann gegen halb zehn am Abend die Entscheidung: »Die heutige Wahl eines Nachfolgers von Sir Simon Rattle ist ohne Ergebnis geblieben. Über das weitere Vorgehen halten wir Sie auf dem Laufenden.« Die Zeit für die weitere Kandidatensuche, sagte Orchestervorstand Peter Riegelbauer noch, könne durchaus »auch ein Jahr dauern«.

Erstaunlich ist nicht so sehr der mutmaßliche Dissens unter den Orchestermusikern; schließlich handelt es sich bei der Beantwortung der Nachfolgefrage um eine Richtungsentscheidung. Die Berliner Philharmoniker sind nicht nur eines der besten Orchester der Welt, »sondern auch eines der klügsten«, schreibt Peter Uehling in der »Berliner Zeitung« und verweist auf die internationale Signalwirkung der jeweiligen Chefdirigenten: Karajan als Zugpferd des Tonträger-Booms, Abbado als großer Netzwerker, Rattle als sozial engagierter Türöffner für ein jüngeres Publikum. Ob man sich da etwa für einen enthusiastischen Jungsporn wie den 34-jährigen Venezolaner Gustavo Dudamel entscheidet oder für den altdeutschen Meister Thielemann (56), der bei der Staatskapelle in Dresden goldrichtig aufgehoben scheint, macht durchaus einen Unterschied. Erschwerend kommt hinzu, dass eine Reihe hochrangiger Kandidaten schon abgesagt hatte, bevor sie gefragt werden konnte, so Daniel Barenboim und zuletzt Mariss Jansons, der soeben demonstrativ seinen Vertrag beim Orchester des Bayerischen Rundfunks verlängerte.

Nein, erstaunlich ist vielmehr die betriebsame Aufgeregtheit, die diese Wahl, noch während sie scheiterte, auf sich zog. Im Laufe des Montags lief etwa die ungeduldige Twittergemeinde zur Hochform auf; der Hashtag »Berliner Philharmoniker« wurde zu einem der am eifrigsten verfolgten. Das Warten vertrieb man sich, da man die Finger nicht stillhalten mag, mit hämischen Einwürfen wie dem Vorschlag, James Last ins Rattle-Amt zu heben. Vielleicht tummeln sich auf Twitter sehr viel mehr Klassikfreunde, als man gemeinhin glaubt. Wenn aber der erste Eindruck nicht täuscht, sind doch viele Kommentarnudeln darunter, die im wirklichen Leben einen Taktstock nicht von einem Geigenbogen unterscheiden könnten.

Es gibt wenigstens zwei Gründe, die Nicht-Entscheidung der Philharmoniker zu begrüßen: Erstens halten die Mitglieder des weltweit einzigen Spitzenorchesters, das selbst über seine Leitung befindet, diese demokratische Wahl für so bedeutsam, dass sie sich fast zu hundert Prozent daran beteiligen: Von 124 stimmberechtigten Musikern waren 123 anwesend. Und zweitens ist eine langwierige, aber autonome Entscheidung allemal besser als eine autoritäre. Man stelle sich nur einmal vor, Kulturstaatssekretär Tim Renner würde den Chefdirigenten des Orchesters, das vom Land Berlin getragen wird, kurzerhand bestimmen.