Russlands holländische Krankheit

Wirtschaft kann Devisenschwemme nicht absorbieren

  • Christian Weisflog, Moskau
  • Lesedauer: ca. 2.5 Min.

Russland schwimmt dank hoher Öl- und Gaspreise im Geld. Bleibt die Regierung ein überzeugendes Investitionsprogramm schuldig, könnte das aktuelle Wirtschaftswunder schnell wieder vorbei sein.

Sie lasteten wie ein Stein auf der russischen Seele: die Milliarden, mit denen man bei den westlichen »Siegern« des Kalten Krieges in der Kreide stand. Der Kreml zelebrierte die vorzeitige Rückzahlung dieser Gelder daher wie den G 8-Vorsitz als Schritt zu alter Größe. Acht Jahre nach der Finanzkrise von 1998 tilgte die Russische Föderation Mitte August ihre verbliebenen Schulden von 21,6 Milliarden Dollar gegenüber dem Pariser Klub, wodurch die Auslandsschulden auf neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts sanken. Moskau spart dadurch bis 2020 Zinszahlungen von über 12 Milliarden Dollar. Allein Deutschland, dem bisher größten Einzelgläubiger, entgehen dadurch 7,7 Milliarden Euro. Während die politische Führung den Prestigeerfolg feiert, sehen Wirtschaftsexperten kaum Anlass zum Jubeln. Russland sei durch die sprunghaft angestiegenen Öl- und Gaspreise zwar unverhofft reich, aber keineswegs gesund geworden. Gewarnt wird vor der »holländischen Krankheit«: Als in der Nordsee einst Erdgas gefunden wurde, kam es in den Niederlanden durch umfangreiche Exporte des Rohstoffes zur Aufwertung der Währung. Dies vermindert die Wettbewerbsfähigkeit der übrigen Exportbranchen und kann im Extremfall zu ihrem Niedergang führen. Um die Flut an Devisen aufzufangen, hat Russland einen Stabilisierungsfonds eingerichtet. Dorthin fließen Mehreinnahmen, wenn der Ölpreis über 27 Dollar pro Barrel liegt. Der Fonds wächst rasant: von rund 77 Milliarden Dollar Anfang Juli auf voraussichtlich 90 Milliarden Ende des Jahres. Doch was mit dem Geld passieren soll, weiß die politische Führung nicht. »Präsentiert die Regierung bis zu den nächsten Wahlen kein überzeugendes Programm, ist es aus mit dem Wachstum trotz hoher Ölpreise«, meint Christopher Weafer, Chefstratege der russischen Alfa-Bank. Laut Weafer hängen zwei Drittel der russischen Wirtschaftsleistung vom Konsum ab, der durch steigenden Rubelkurs und hohe Inflation zusammenbrechen könnte. Geht es nach dem Finanzministerium und dem Internationalen Währungsfonds, sollte das Geld im Ausland langfristig in Anlagefonds investiert werden, um damit unter anderem die Renten künftiger Generationen zu sichern. Ein anderer Teil der Regierung will die Mittel in die Wirtschaft oder dringende Infrastrukturprojekte investieren. Wassilij Solodkow von der Moskauer »Higher School of Economics« hält die hochgradig vom Öl- und Gassektor abhängige, stark monopolisierte Wirtschaft allerdings für unfähig, diese Gelder zu absorbieren: »Warum steigen die Immobilienpreise derart rasant? Weil dies praktisch die einzige Möglichkeit ist, Geld zu investieren.« Wie unreif die Wirtschaft ist, wird am Finanzmarkt ersichtlich: Russische Unternehmen, auch staatliche Rohstoffriesen wie Gasprom oder Rosneft, besorgen sich Kapital zunehmend im Ausland. Das Volumen ausländischer Privatanleihen nahm 2005 von 67 Milliarden auf 176,2 Milliarden Dollar zu. Die Gründe dafür seien niedrige Zinsen im Ausland und der starke Rubel, erklärt Nina Tschebotarowa von der Expertengruppe für Wirtschaftsfragen des Finanzministeriums. Analyst Weafer meint, im Grunde habe sich das Schuldenproblem nur von der staatlichen auf die private Ebene verlagert. Dies gehe nur so lange gut, wie der Rubel stark bleibt. Selbst wenn die Regierung eine Therapie gegen die »holländische Krankheit« finden sollte, könnte sie immer noch an der trägen Bürokratie scheitern. Oder wie Ökonom Solodkow in Anspielung an den Oligarchen Roman Abramowitsch sagt: »Bei uns wird viel Geld für ein Projekt zur Verfügung gestellt, und a...

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