nd-aktuell.de / 16.05.2015 / / Seite 25

Stunde Null?

Annotiert

Rainer Holze

»Meine Stunde Null« hieß ein DEFA-Spielfilm aus dem Jahr 1970 nach einem Drehbuch von Jurek Becker und mit Manfred Krug in der Hauptrolle. Ein Antikriegsfilm mit Witz, der ein Publikumserfolg war, trotz offizieller Kritik. »Eine ›Stunde Null‹ in den Köpfen?«, fragte ein Kolloquium, zu dem der Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung und das Berlin-Brandenburger Bildungswerk zum 70. Jahrestag der Befreiung einluden. Im Gegensatz zu den materiellen Zerstörungen zu Kriegsende in Deutschland ist die geistige Situation im letzten Kriegs- und ersten Friedensjahr in der Publizistik unterbelichtet. Das Kolloquium sollte dieses Manko korrigieren.

Den Reigen der Vortragenden eröffnete Günter Benser. Er kritisierte, dass die Medien die Deutschen zunehmend und einseitig in der Opferrolle zeigen. Zudem sei über die Familien und Bediensteten der Hitlerclique mehr zu erfahren als über die Hintermänner und Nutznießer von Faschismus und Krieg in Industrie und Bankwesen. Gänzlich totgeschwiegen würden die Helden des Kampfes gegen den Faschismus. Zudem werde der rassistische deutsche Faschismus verharmlost, wenn man in einem Atemzug von den »beiden deutschen Diktaturen«, Hitlerregime und DDR, spreche.

Die weit verbreitete Metapher von der »Stunde Null« suggeriere, dass die Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges und nach der Niederlage des Nazireiches eine Schicksalgemeinschaft gebildet hätten. Subjektiv mögen viele so empfunden haben. Doch die Scheidelinie verlief zwischen Faschisten und Antifaschisten, zwischen Kollaborateuren und Widerständlern; unterschiedliche soziale Herkunft und politische Positionen spielten zunächst keine oder nur eine marginale Rolle. Benser mahnte, aus der Vorgeschichte zweier Weltkriege zu lernen und rechtzeitig gegen rassistische, chauvinistische und militaristische Strömungen, Bewegungen und Politiken anzutreten.

Peter Brandt erörterte sozialdemokratische Sozialismuskonzeptionen 1945/46 anhand der Antipoden Grotewohl und Schumacher, Jörg Wollenberg stellte eine Reihe in West und Ost »vergessener« Nachkriegsdokumente deutscher Sozialisten vor und Gisela Notz berichtete über die Aktivitäten sozialdemokratischer Frauen 1945. Jürgen Hofmann verdeutlichte, wie sich die KPD mit der ideologischen Hinterlassenschaft des deutschen Faschismus 1945/46 auseinandersetzte, während Jörg Roesler erhellte, wie in der britischen und sowjetischen Besatzungszone mit den aus dem Osten umgesiedelten Deutschen umgegangen wurde. Siegfried Prokop widmete sich der geistigen Verfasstheit der deutschen Intelligenz 1945. Abschließend bot Heinz Engelstädter einen philosophischen Disput über Geschichtsverständnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die Referate sollen in einem Sammelband dokumentiert werden.