Gorbatschow: Nüchternheit braucht Zeit

Ex-Generalsekretär nennt »trockenes Gesetz« Fehler

  • Lesedauer: 2 Min.

Moskau. 30 Jahre nach seinem Feldzug gegen Alkoholmissbrauch in der Sowjetunion hat der einstige KPdSU-Generalsekretär und »Vater der Perestroika« Michail Gorbatschow (84) die damalige Kampagne als Fehler bezeichnet. Die Maßnahme hätte Schritt für Schritt und nicht so radikal eingeführt werden müssen, sagte er der russischen Tageszeitung »Komsomolskaja Prawda«. »Man muss so etwas allmählich machen. Nicht wie mit der Axt auf den Kopf«, räumte er ein.

Vor 30 Jahren, am 17. Mai 1985, hatte die Parteizeitung »Prawda« einen Beschluss des Zentralkomitees der KPdSU veröffentlicht, der Verkauf und Genuss von Alkohol bis etwa 1991 extrem einschränkte. Dies hatte unter anderem einen Popularitätsverlust für Gorbatschow zur Folge, der vom Volk als »Mineral-Sekretär« verspottet wurde.

Das »trockene Gesetz« sei bereits unter Kremlchef Leonid Breschnew vorbereitet worden, sagte Gorbatschow. »Die Menschen schrieben bittere Briefe: Ewig betrunkene Eltern kümmern sich nicht um ihre Kinder, überall gibt es Scheidungen«, schilderte er. Auch in seiner Jugendzeit als Erntehelfer im Nordkaukasus sei Hochprozentiges in Strömen geflossen. Der Beschluss habe aber fatale Folgen gehabt: »Reihenweise schlossen Geschäfte, die Schwarzbrennerei begann, und wir hatten extreme Verluste im Staatshaushalt.«

»Am Anfang fanden sogar Trinker die Idee gut. Später unterstützten mich nur noch die Frauen«, sagte Gorbatschow. Erfolge seien aber sichtbar gewesen. So sei die Geburtenrate gestiegen und die Zahl der Todesfälle gesunken. Den Vorwurf, er habe das Roden von Weinbergen angeordnet, wies der Ex-Sowjetpräsident vehement von sich.

Er hätte damals statt einer Kampagne eine langfristige Strategie gebraucht, räumte Gorbatschow ein. »Wer die Gesellschaft ausnüchtern will, muss sich auf einen langen Kampf einstellen. Dieser Kampf hat aber nichts an Aktualität verloren.« Der letzte Staatschef der Sowjetunion gilt als einer der Väter der deutschen Wiedervereinigung.

Experten beklagen seit Jahrzehnten einen hohen Alkoholkonsum in einem der Stammländer des Wodkas. Ein Zusammenhang zwischen der hohen Sterblichkeit in Russland und Alkohol ist seit langem wissenschaftlich belegt. Mehr als die Hälfte der Todesfälle bei Russen im Alter zwischen 15 und 54 Jahren sind internationalen Studien zufolge auf übermäßigen Alkoholkonsum zurückzuführen. dpa/nd

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal