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Werktreue? Gehört den Buchhaltern

Abschluss des 52. Theatertreffen Berlin: Frank Castorfs »Baal«, der allumfassende Krieg und die digitale Revolution

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.
Berliner Theatertreffen: Castorfs »Baal« und eine ewig alte Debatte. Während die Gralshüter die Texttreue verteidigen, meint nd-Autor Hans-Dieter Schütt: »Es gibt Originalgemälde, aber keine Originalaufführung!«

Frank Castorfs Theater ist vieles, ein Jubelschrei für schöne Gelegenheiten ist es nicht. Und die Arbeit des Volksbühnen-Chefs adelte das diesjährige Berliner Festival bemerkenswerter Aufführungen mit einer Novität: Theaters natürliches Los - das unausweichliche Gebundensein an ein Ablaufdatum - vollzog sich als herausgehobenes, trotziges Ereignis. Denn »Baal«, inszeniert am Münchner Residenztheater, erlebte beim Theatertreffen seine letzte Aufführung. Verboten vom Brecht-Erbwachregiment. Zu viel Fremdtext, zu viel Anreicherungssinn einer Regie, die bekanntlich die Seele eines Stückes mit dem Mut des Messers sucht, nicht mit der Demut der Hostie. Der somit erzwungene Abschied von einem Castorf-Epos als kräftige Gegen-Demonstration auf dem Theatertreffen: Eine Aufführung ist keine Text-Kopiermaßnahme, die Werktreue ist ein buchhalterischer Begriff, jede Inszenierung möge gefälligst ein eigengesetzlicher Korpus sein, dem - just bei Castorf - alles mutmaßlich Heilige zum Material wird.

Nichts geht doch ohne ästhetische Zumutungen. Ibsen, Brecht, Beckett zum Beispiel, Dichter des diesjährigen Treffens: Klassiker deshalb, weil sie Interpretation über die Zeiten hinweg auslösen und aushalten. Sie haben Stücke aus schreiendem Zuspitzungswillen gegen den Mürbezustand einer Zeit geschrieben, nicht aus jener Milde heraus, die konform geht mit den Unverträglichkeiten einer Gesellschaft. Niemand hat den Autoren die Feder gehalten, niemand war in ihrem Kopf - ihr literarischer Wert ergibt sich allein aus dem sehr verschiedenen Gebrauch, den jede wechselnde Zeit von diesen Köpfen macht. Punkt. Dennoch gebärden sich immer mal wieder Gralshüter der sogenannten Texttreue, als gelte es ein ominöses Original zu schützen. Es gibt Originalgemälde, aber keine Originalaufführung! Zu schützen gibt es nur einen sehr speziellen, ehrenhaften Begriff des Konservativen. Zu konservieren wäre, gerade im Theater: die Treue zur dauernden Qual, die Welt und den Menschen nicht verstehen zu können und trotzdem leben zu wollen. Zu konservieren wäre: das Erfühlen eines tiefen, offenkundig dauerhaften Risses zwischen der Idee des Humanen und seines dauernden Verrats.

Castorfs Eingliederung von »Baal« in den langsam steigenden Strom schlammiger Herrschsüchte und Verdreckungen in den Indochina-Kriegen; der bedrängende Assoziationspfad, der diesen Brecht hin zu »Apocalypse Now« führte - er führte mitten hinein auch in die so wühlend wahrhaftige Größe einer unverwechselbaren Regie. Oberfläche und Tiefe, Abscheulichkeit und Poesie, Würde und Verkrüppelung greifen rücksichtslos ineinander. Jedes Gefühl ruft geradezu nach seiner Diffamierung. Was sich setzen will, wird aufgescheucht. Wenn einfach nur gesprochen werden soll, schiebt sich der grelle Schrei weit schneller aus der Kehle. Castorfs Schau-Spiel: sich mit Stolz niedrig spielen, sich schwitzend billig präsentieren, die Verachtung über das eigene Unglück austoben - eine tolle wüste wirre Ehrlichkeit, die der gängigen Hochwertökonomie, dem schönen Schein Widerstand leistet. Dem sozialplappernden oder politbeflissenen Agitkram sowieso.

Trotz der Bücherberge von Analysen: Krieg bleibt - erschreckend! - ein Phänomen, ein unbegreiflicher Anziehungspunkt und Austragungsort für die menschliche Gier nach Kitzel, Explosion, Furor, nach Selbstentflammung und Selbstzerstörung. Das erzählt Castorf. Jeder Idealismus braucht (und schafft!) offensichtlich sein Gegenteil - Verblendung vernichtet uns nicht nur, sie ist immer wieder auch fataler Aufbaustoff. Das ist das Grässliche, dem keine Lektion, kein Gedenkritual, keine Wissenschaft, keine Moral, keine Beschwörung, keine Politik, keine Mahnung wirklich durchgreifend beikommt.

Der Krieg. Der Krieg gegen Völker, gegen Flüchtlinge, gegen den Nächsten, gegen sich selbst. Stoff für Autoren, ob Hauptmann und Fassbinder, Schalansky und Palmetshofer, Beckett und Vinterberg, Stoff für Regisseure, ob Henkel oder Kennedy, Luz oder Borgmann, Panteleev oder Rüping. Das war der Kern in den Aufführungen des 52. Theatertreffens. Das ja mit Wolfram Lotz’ »Die lächerliche Finsternis« (Burgtheater Wien, Regie: Dušan David Pařízek) einen weiteren Zugang zu »Apocalypse Now« und dessen Vorlage, Conrads »Herz der Finsternis«, aufbot. Bundeswehrsoldaten in den »Regenwäldern Afghanistans«. Radikalgroteske gegen Realismus. Überhaupt: das Theater als Raum der Verantwortungslosigkeit, wo jeder Dialog mit der Politik verweigert wird. Politik mag Wissen assoziieren, aber Kunst hilft nur dort, wo wir nicht glauben, wir wüssten etwas schon. Der Künstler ist ein Rivale der realen Welt - und damit Partisan gegen jede Art von blanker Wiederspiegelungstheorie. Theater demnach als Plädoyer für Bildnisse ohne Scham, ohne Übergänge, ohne Rücksicht, ohne Logik, ohne die Trugschlüsse der Vernunft. Kunst muss die Wirklichkeit immerfort blamieren und ihr für Momente (etwa einer Aufführung) die Chance nehmen, uns zu besetzen. Und das Kunstwerk, das den politischen Aktivisten zufriedenstellt, ist eh nur Zeitgetuschel.

Krieg. Und demnach immer wieder die alten, ewig jungen Fragen, die dieser Festival-Jahrgang bedrängend aufwarf. Woran erkennt man den Menschen? An den Tränen. Woran erkennt man den modernen Menschen? Dass er seine Tränen verleugnet, bis er keine mehr hat. Und: Kann man denn die Welt nicht auch dadurch bewohnbar halten, dass man mit einer unerfüllten Sehnsucht in ihr bleibt? Und: Das Tägliche absolvieren mit geduldiger Gesichtsmaske, übers Leben reden, aber Geld meinen - warum nur immer dieser Rollenzwang? Selbst der Familienkreis: eine Schlinge. Und: Nichts bringt uns so leicht um; aber was uns nicht umbringt - macht es uns nicht dennoch kalt? Und: Die Befreiung von Feindbildern lässt aufatmen, aber wieso lässt sich die Sehnsucht nach ihnen nicht abtöten? Und: Jeder Mensch hat ein garantiert falsches Bild von sich und der Welt, und er hütet es - miteinander zu reden, warum ist das oft nur das Fortspinnen einer falschen Dichtung: der Lebenslüge?

Wenn das Ensemble um Yael Ronen (»Common Ground«, Gorki Theater Berlin) Bosnier, Serben, Kroaten ins gemeinsame Erzählen eintauchen und den Jugoslawien-Krieg wieder auftauchen ließ, und zwar so aufwühlend, dass die Täter-und-Opfer-Grenzen wie Mauern fielen, dann trat in der Wahrnehmung genau das ein, wofür Peter Handke seit Jahren schreibt. Der Krieg als Metapher: für Orte, von denen wir täglich alles erfahren - und nichts wissen. Ein Markt für Moral-Diktatur. Israel, Palästina, Ukraine, Russland. Und, und, und. Handke über den Westen: »Diese Endzeit-Horde braucht für die Geschichte den einen Schuldigen und hat für sich selbst die Rolle des Guten bestimmt; hier, jetzt aber ist die Zeit aller Schuldigen, die Welt der Allerschuldigsten.« Das biografische Erzählen, bei Ronen, als Instrument gegen den Medien-Militarismus. Nachrichten? Klingt wie Hinrichten. Information bleibt Deformation. O heiliger Zorn gegen alle eindeutigen Politik- und Geschichtsbefunde.

»Common Ground«: tief beteiligtes, spielend doch so sehr wahrhaftiges Theater. In der Fiktion das so schmerzend Wahre. Ich denke an »Die lächerliche Finsternis« aus Wien, das Bühnenbild wird ohrenbetäubend zerfräst. Um einer wichtigen Empfindung willen: Kulissen lügen, Fassaden verbergen. Also: einschlagen, häckseln. Auch das Theater? Vielleicht im Dienste des Theaters, das einzig in der eigenen Krise wirklich lebendig ist. Wie der Mensch. Nur: Wie kann mitten im Rumor der Geschäftigkeit eine Selbstaufkündigung betrieben werden, die nicht Selbstvernichtung bedeutet? Wie aussteigen, ohne aus allen Chancen zu stürzen?

Das Theatertreffen zeigte traditionell zehn Inszenierungen, aber von Jahr zu Jahr wächst der Anteil an begleitendem, eingreifendem Programm, und mehr und mehr steigert sich die Intensität, mit der Konsequenzen der digitalen Revolution diskutiert werden. Die knarzige Bühne und das Netzwerk, der leibhaftige Schauspieler und die frappierenden Möglichkeiten modernster Technik, die Trennung in Akteure und Zuschauer einerseits, die Explosion interaktiver Verknüpfungen andererseits - das erhob auch dieses Festival zu einer Begegnungsstätte von Freiheitsentschlossenen und Verunsicherten, von Innovationsbeseelten und jenen, die in den Wechselprozessen von Sinn und Form mit ihren Verlustängsten zu kämpfen haben.

Im Flüchtlingsdama »Die Schutzbefohlenen« von Elfriede Jelinek, Thalia Theater Hamburg (Regie: Nicola Stemann), fiel der Satz: »Wir können euch nicht helfen, wir können euch nur spielen.« Das ist der Satz, der alles verbindet und alles trennt. Er trennt Menschen tief im Teufelskreis von denen draußen, und er verbindet doch auch jeden mit jedem - weil der wahre Teufelskreis von niemandem verlassen werden kann. Womit wir beim Kern, also hoffentlich Geheimnissen, des Theatertreffens von - 2016 sind.

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