Mehr Popcorn statt mehr Geld

Mindestlohn: Gastgewerbe hat kaum Grund zur Klage / Gewerkschaft warnt vor Trickserei

  • Nick Kaiser
  • Lesedauer: 3 Min.
Das Gastgewerbe geht zum ersten Mal mit dem Mindestlohn in die Hauptsaison. In Berlin beklagen sich die Betriebe kaum über negative Auswirkungen auf ihr Geschäft.

Rund viereinhalb Monate nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns steht der Sommer und damit die Hauptsaison des Gastgewerbes vor der Tür. Nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ist der Anteil der vom Mindestlohn betroffenen Betriebe deutschlandweit im Gastgewerbe mit rund 30 Prozent besonders groß. In Berlin bleiben in der Gastronomie und Hotellerie bislang allerdings größere finanzielle Auswirkungen der neuen Lohnuntergrenze von 8,50 Euro pro Stunde aus.

»Selbst die Hardliner mussten einsehen, dass die Horror-Szenarien nicht eintreffen«, sagte Sebastian Riesner, Sekretär der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) für Berlin. Weder das vielbeschriene »Bürokratiemonster« treibe sein Unwesen, noch vernichte der Mindestlohn Arbeitsplätze. »Es gibt keinerlei nachweisbare negative Auswirkungen«, stellte Riesner fest.

Nachfragen bei einigen Betrieben ergaben ähnliche Einschätzungen. »Für uns hat der eingeführte Mindestlohn und die dazugehörige Dokumentation momentan keine direkte Auswirkung«, sagte Jana Seifert, die Geschäftsführerin der »Arena« in Treptow, zu der das im Sommer beliebte »Badeschiff« gehört. »Wir werden jedoch einige Preise anheben müssen, haben uns aber entschlossen, die Eintrittspreise für das Badeschiff beizubehalten.«

Am »Beach Mitte«, der nach Angaben der Betreiber größten innerstädtischen Strandfläche Europas, gibt es neben zahlreichen Beachvolleyballplätzen auch einen großen Gastronomiebereich. Auch hier seien »keine nennenswerten Änderungen« durch den Mindestlohn festzustellen, erklärte ein Sprecher.

Im »Circus« Hostel und Hotel am Rosenthaler Platz besteht ebenfalls kein Grund zur Aufregung. »Der Schritt zum Mindestlohn war für uns klein. Deswegen sind die finanziellen Auswirkungen für uns auch überschaubar«, sagte der geschäftsführende Gesellschafter Tilman Hierath. »Wir gehen aber davon aus, dass die Hotellerie und Gastronomie insgesamt schon eine Kostensteigerung spüren wird, die sich mittelfristig in den Preisen bemerkbar machen wird.«

Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) gehört zu den schärfsten Kritikern des Mindestlohns. Nach Angaben des Hauptgeschäftsführers des Dehoga Berlin, Thomas Lengfelder, sind nicht etwa gestiegene Personalkosten das Problem, sondern die »bürokratischen Begleiterscheinungen«. Vor allem wegen der Verpflichtung, Arbeitszeiten zu dokumentieren, sei der Unmut sehr groß. »Unsere Wirte gehören zu ihren Gästen und nicht hinter den Schreibtisch«, sagte Lengfelder.

»Die Bürokratie ist abartig, völlig über das Ziel hinaus geschossen«, findet auch Oliver Winter, Geschäftsführer der Hostel- und Hotelkette A&O, die mit drei Häusern in Berlin vertreten ist. »Wir verwalten uns mit Stundenzetteln jetzt zu Tode.«

Für NGG-Gewerkschaftssekretär Riesner ist die Bürokratie-Diskussion scheinheilig. In vielen Unternehmen sei es schon zuvor gang und gebe gewesen, Arbeitszeiten aufzuzeichnen. Dazu zählt auch das »Circus«, wie Gesellschafter Hierath erklärte: »Der zusätzliche bürokratische Aufwand für uns geht gegen null, da wir bereits vorher ein elektronisches Zeiterfassungssystem genutzt haben.«

Die Dokumentation von Arbeitszeiten war laut Riesner auch vor der Einführung des Mindestlohns zu Beginn dieses Jahres gesetzlich vorgeschrieben. Neu seien nur die im Mindestlohngesetz vorgesehenen hohen Geldstrafen von bis zu 30 000 Euro für Verstöße gegen die Dokumentationspflicht. Hier werde allerdings noch nicht ausreichend kontrolliert.

Zum Jahreswechsel hätten viele Arbeitgeber versucht, den Mindestlohn zu umgehen, erzählte Riesner weiter. »Vor allem im Gaststättengewerbe wurde schon immer getrickst«, sagte er. Es sei also damit zu rechnen gewesen. »In der Breite und Intensität der ersten Monate hat uns das aber schon ein Stückchen überrascht.«

Häufig seien Arbeitnehmer dazu aufgefordert worden, neue Verträge zu unterschreiben, erzählte Riesner. Dann seien die Arbeitszeiten reduziert oder Feiertagszuschläge, Weihnachts- oder Urlaubsgeld gestrichen worden. So bekämen die Angestellten trotz Mindestlohns unter dem Strich nicht mehr Geld als zuvor. In der Gastronomie behielten die Arbeitgeber bisweilen Trinkgelder ein. Manchmal würden Naturalien mit dem Lohn verrechnet. Wer in einem Kino arbeite, bekomme statt mehr Geld beispielsweise Popcorn, oder Mitarbeiter eines Sonnenstudios dürften sich kostenlos auf die Sonnenbank legen. dpa

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