Ersatzbein oder verbotenes Hilfsmittel?

Markus Rehm will endlich wissen, ob er mit Prothese gegen Nichtbehinderte springen darf oder nicht

Wieder ist der beinamputierte Markus Rehm weiter gesprungen als namhafte nichtbehinderte Konkurrenz. Analysen, ob ihm seine Prothese einen Vorteil verschaffen, liegen noch immer nicht vor.

21 Schritte läuft Markus Rehm an, auch an diesem Sonntagnachmittag in Hengelo. Mit jedem Schritt wird er schneller, der letzte lässt ihn fliegen. Rehm weiß sofort, dass der Sprung gut war. Nach der Landung klatscht er dreimal in die Hände, ballt die Faust und blickt dann gebannt auf die Anzeigetafel des FBK-Stadions. Die zeigt schließlich 8,07 Meter für seinen letzten Versuch an. Nach fünf Durchgängen hatte der Leverkusener Weitspringer noch auf Rang sechs gelegen, jetzt führt er das traditionsreiche Leichtathletik-Meeting in den Niederlanden an. Die namhafte Konkurrenz um Hallenweltmeister Mauro Vinícius da Silva aus Brasilien, den mexikanischen WM-Bronzegewinner Luis Alberto Rivera oder Zehnkampf-Olympiasieger Ashton Eaton kann nicht mehr kontern. Rehm gewinnt. Auf einem Bein - und einer Prothese.

Gewisse Berühmtheit erlangte Rehm nicht etwa bei seinem Paralympicssieg 2012 in London, sondern erst zwei Jahre später, als er in Ulm die komplette nichtbehinderte Konkurrenz um Sebastian Bayer und Christian Reif bei den deutschen Meisterschaften bezwang. Es folgte eine wilde Diskussion darüber, ob die Katapultwirkung der Prothese Rehm einen unlauteren Vorteil einbringen würde. Ohne entsprechenden Beleg dafür ließ ihm der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) den Meistertitel. Aus Angst vor einer Ablehnung durch Europas Verband wurden trotzdem drei andere Springer zur EM nominiert. Zudem legte der DLV fest, dass Rehm bis zur endgültigen Klärung nur noch außerhalb der Wertung mitmachen darf. Inklusion ja, aber bitte nur im nebenher.

Dass sich Rehm in Hengelo mit den Nichtbehinderten messen durfte, war Meeting-Direktor Hans Kloosterman zu verdanken. »Ich hatte von mir aus angeboten, in getrennter Wertung zu springen, doch der Veranstalter wollte mich gern in einer Wertung mit den anderen dabei haben«, sagt Rehm gegenüber »nd«. Bei Meetings steht dies den Organisatoren frei. Bei den deutschen Meisterschaften in Nürnberg dürfte Rehm nur außerhalb der Wertung starten, bei den Welttitelkämpfen in Peking im August gar nicht. Der DLV hat beim Weltverband die Übernahme der eigenen Regel beantragt, doch selbst wenn sie angenommen wird, wäre es zu spät für Rehm, denn die Meldelisten werden schon lange vor der Abstimmung geschlossen. Immerhin ist es eine Option für die Zukunft. »Bei der WM an den Start zu gehen, wenn auch nur in getrennter Wertung, wäre ein Traum«, sagt Rehm.

Für die Verbände ist der 26-Jährige Ärgernis und Glücksfall zugleich. Einerseits sorgt er mit seinen Weiten dafür, dass sie sich mit dem Thema auseinandersetzen müssen. Andererseits ist er kompromissbereit und einsichtig. Seit mehr als einem Jahr - lange vor seinem Meisterschaftsstart in Ulm - fordert er Klarheit, gibt sich aber geduldig. Manch anderer hätte sein Startrecht längst eingeklagt, doch das ist nicht Rehms Stil. Er wartet ab, wie der DLV und der Deutsche Behindertensportverband (DBS) die angekündigten Untersuchungen angehen, die immer noch nicht begonnen haben.

Karl Quade, DBS-Vizepräsident Leistungssport, erläutert gegenüber »nd«, dass es kein Einzelfallgutachten geben werde. Vielmehr soll tiefer geforscht werden: mit vielen Probanden für eine breitere Datenbasis, mit Untersuchungen der Biomechanik, aber auch der Ingenieurswissenschaften und der Robotik. Es soll ein Modellbild entstehen, so dass nicht in jedem Fall neue Analysen gestartet werden müssten. Das Projekt wird wohl mehrere hunderttausend Euro kosten, dafür wurden Förderanträge gestellt, die noch auf Bewilligung warten. »Die Untersuchungen sind in Vorbereitung, und es sieht gut aus«, sagt Quade.

Derweil wartet Rehm auf Nachrichten der Verbände, schließlich soll er Teil der Forschung sein. »Ich habe von so vielen Ideen gehört. Wie konkret die verfolgt werden, welche Schritte im Detail geplant sind, weiß ich allerdings nicht«, sagt Rehm. Er möchte nicht mehr mit schlechtem Gewissen springen. »Natürlich will ich schnell wissen, ob ich einen Vorteil habe. Bisher gab es nur Bedenken über die Vergleichbarkeit, aber keinen Nachweis. Trotzdem ist es aber auch wichtig, andere mit einzubeziehen, da sonst alle nur auf mich gucken. Auch andere springen mit dieser Prothese, kommen aber längst nicht so weit. Nur so sieht man, dass mehr hinter meinen Leistungen steckt als nur die Prothese«, glaubt Rehm. Er kann sich mit der großen Lösung anfreunden, auch wenn er nun viel länger auf Ergebnisse warten muss.

Der Ausnahmespringer - kein anderer Prothesenspringer kommt auch nur in die Nähe der acht Meter - hat Gefallen an der neuen Konkurrenz gefunden. »In Hengelo waren neun 8-Meter-Springer dabei, ein unglaublich hohes Niveau. Mir macht diese Herausforderung Spaß, gegen sie um jeden Platz zu kämpfen«, sagt er. Sonst geht es bei ihm nur um die Weite. Als er in Barcelona bei einem reinen Wettkampf für Athleten mit Handicap mit 8,29 Metern Weltrekord schaffte, wusste er nicht einmal, wie weit der Zweite gesprungen war.

Nicht jedem Kontrahenten mit zwei gesunden Beinen schmeckt die neue Entwicklung. »Manche sehen mich als Gefahr, dass ich irgendwie ihre Leistung reduziere oder ihnen Sponsoren oder Prämien wegnehme«, erinnert sich Rehm an Reaktionen aus dem letzten Jahr. »Seit Ulm habe ich aber keinen neuen Sponsor, ich habe auch immer noch keinen Einzelvertrag bei einem Ausrüster. Und warum sollte ein paralympischer Athlet nicht das gleiche Recht auf Prämien haben wie ein nichtbehinderter?«, fragt er nun.

Weil ihn die Prothese weiter springen lässt, sagen die Kritiker. Mit seiner langsameren Anlaufgeschwindigkeit könne kein anderer solche Weiten erreichen sagen sie. »Wer nur den Absprung betrachtet, macht es sich viel zu einfach«, entgegnet Rehm. »Der Anlauf ist im Weitsprung schließlich auch sehr wichtig. Und im Gegensatz zum menschlichen Fuß habe ich in der Prothese keine Sensorik und keine Motorik, die beim Absprung helfen könnte. Das wird derzeit nicht berücksichtigt«, kritisiert er.

Der vom DLV-Präsidium für Inklusionsfragen beauftragte Gerhard Janetzky bringt die Diskussion auf einen Nenner: »Es geht um die Frage, ob die Prothese ein Ersatzbein oder ein verbotenes Hilfsmittel ist.« Der Verband müsse andere Athleten vor eventuellen Nachteilen schützen, denn am wichtigsten sei ein fairer Wettkampf für alle.

Fairness fordert Rehm aber auch für sich. So werde die zunehmende Professionalisierung im Behindertensport übersehen. »Wir haben mittlerweile die gleiche Betreuung von Trainern und Medizinern, ich muss nur noch halbtags arbeiten, kann also mehr trainieren. Bessere Leistungen immer nur auf bessere Prothesen zu schieben, ist zu kurz gedacht«, sagt Rehm.

Die Carbonfeder sei ein gängiges Modell: »Ich springe keinen Prototypen«, stellt Rehm klar. Immer wieder wird unterstellt, er verschaffe sich als Orthopädietechniker besondere Vorteile. »Natürlich unterscheidet sich die Gesamtprothese von anderen, da sie auf die Beinlänge, das Körpergewicht und den Stumpf angepasst werden muss. Das macht eine Normierung sicher schwierig. Das Bauteil an sich ist aber gleich«, so Rehm.

Der Weitspringer weiß, dass es schwierig wird, wissenschaftlich alle Vor- und Nachteile nachzuweisen. »Ich wünsche mir aber, dass es wenigstens versucht wird. Wenn wir dann überein kommen, dass wir es nach dem derzeitigen Stand der Technik gar nicht klären können, müssen wir das vielleicht auch akzeptieren. Dann starte ich weiter in getrennter Wertung bis man eine bessere Lösung findet«, sagt Rehm - zurückhaltend wie immer.

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