nd-aktuell.de / 05.06.2015 / Kultur / Seite 14

Leseprobe

Helmut Schmidt in China

Helmut Schmidt über China

Bis ans Ende des europäischen Mittelalters ist China wissenschaftlich und technologisch den Europäern seiner Zeit hoch überlegen gewesen. Die Chinesen konnten längst mit beweglichen Lettern Bücher drucken, sie konnten Stahl, Schießpulver, Kanonen und Granaten herstellen, sogar Raketen ... Mit dem Ende der Ming-Dynastie begann in der Mitte des 17. Jahrhunderts der allmähliche Niedergang der bisherigen kulturellen Hochphase. Entscheidend war der zunächst noch langsame außenpolitische Machtverfall. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts zwangen die europäischen Mächte China zur Öffnung seiner Hafenstädte. Sie errichteten eine Reihe von Quasi-Kolonien, in den Hafenstädten »Konzessionen« genannt. Am Ende des ersten Japanisch-Chinesischen Krieges 1894/95 verlor China die Insel Taiwan (damals noch portugiesisch Formosa genannt), es verlor auch seine Vorherrschaft über die Koreanische Halbinsel.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts dankte der letzte Kaiser von China ab, die Japaner drangen nach Korea und später, in den dreißiger Jahren, in die chinesische Mandschurei vor; gleichzeitig herrschte Bürgerkrieg ... Der Bürgerkrieg endete mit der Ausrufung der Volksrepublik China im Oktober 1949 durch Mao Zedong ... Wenn man sich die innerlich und äußere zerrissene Situation Chinas während fast der gesamten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor Augen führt, ... dann grenzt der ökonomische Wiederaufstieg des Landes an ein Wunder ...

Wie soll sich der Westen mit Blick auf China verhalten, wie soll er auf die Herausforderung reagieren? Drei Punkte sind aus meiner Sicht für ein friedliches und kooperatives Nebeneinander unabdingbar. Erstens: Verzicht auf westliche Überheblichkeit, stattdessen Respekt gegenüber der ältesten Kulturnation der Welt. Zweitens: Volle Einbeziehung Chinas als gleichberechtigter Partner in alle multinationalen Organisationen, in denen globale Fragen - Wirtschaft, Finanzen, Klima, Abrüstung - verhandelt werden. Drittens: Keine Widerstände gegen die zu erwartende Annäherung Taiwans an die Volksrepublik China und die daraus sich ergebende friedliche Wiedervereinigung.

Aus Helmut Schmidt »Ein letzter Besuch. Begegnung mit der Weltmacht China« (Pantheon, 188 S., br., 14,99 €).