nd-aktuell.de / 06.06.2015 / / Seite 25

Für Bosse ein schwarzer Tag

Als westdeutsche Arbeiter mit wilden Streiks das Kapital in die Knie zwangen. Von Axel Berger

Axel Berger

Ein Blick auf die Entwicklung der Lohnquote in der Bundesrepublik fördert Erstaunliches zutage. Im Gegensatz zu allen Mythen rund um den Rheinischen Kapitalismus und dessen angeblich sozial ausgleichende Funktion hat es seit der Konsolidierung des Nachkriegskapitalismus in den 1950er Jahren lediglich eine Phase gegeben, in der der Anteil der Löhne am Volkseinkommen einen nachhaltigen Anstieg verzeichnete. Die Rede ist von den Jahren 1969 bis 1973. Von etwas über 65 auf etwa 72 Prozent hatte dieser Maßstab der relativen Stärke »der politischen Ökonomie der Arbeiter« (Marx) gegenüber der der Bosse gesteigert werden können. Um dann wieder und immer weiter abzustürzen und sich schließlich trotz der Rekordzahlen geleisteter Arbeitsstunden und dem Boom im neuen europäischen »Wirtschaftswunderland« bei Quoten zwischen 62 und 64 Prozent einzupendeln.

Die Suche nach den Ursachen für diese relative, kurze proletarische Erfolgsgeschichte zu Beginn der 1970er Jahre muss am 2. September 1969 in Dortmund ansetzen. In den Hütten der Hoesch AG, dem damals zweitgrößten Stahlerzeuger der Bundesrepublik, war ein Großteil der 27 000 Beschäftigten völlig überraschend und ohne Mandat seitens der IG Metall in den Ausstand getreten. Innerhalb eines Tages gelang es ihnen, die Betriebsleitung zur Annahme der Forderung von 30 Pfennig mehr Lohn pro Stunde zu zwingen, die eine Steigerung von über sechs Prozent zum tariflichen Ecklohn darstellte.

Es war aber weniger dieser Abschluss, der die Kräfteverhältnisse ins Wanken brachte, als vielmehr das Beispiel, das die Dortmunder Stahlwerker damit boten. Wenige Monate später stellte der Unternehmerverband Ruhr-Niederrhein in seinem Jahresbericht verärgert fest: »Der 3. September 1969 war für unsere rechtsstaatliche Ordnung ein rabenschwarzer Tag, war er doch der Auftakt für eine Welle wilder Streiks, die die den Sozialpartnern anvertraute Tarifautonomie aufs schwerste erschütterten.«

Bis dahin war es für die Unternehmer ausgesprochen rund gelaufen - trotz roter Fahnen auf den Demonstrationen der vor allem studentischen Jugend in den 1960er Jahren. Während in Frankreich im Mai 1968 die Unruhe auch und gerade die Betriebe erfasst und zum Generalstreik geführt hatte sowie in Italien militante Betriebsbesetzungen stattfanden, herrschte in der Bundesrepublik die sprichwörtliche Friedhofsruhe. Nach der kleinen Rezession der Jahre 1966/67 hatte die wieder anziehende Konjunktur den Unternehmen zudem gigantische Gewinne in die Kassen gespült. Laut den offiziellen Angaben des von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Jahresgutachtens für das Jahr 1968 sind die gesamtwirtschaftlichen Gewinne um den Rekordwert von 22,8 Prozent gestiegen, während die Löhne lediglich um 4,7 Prozent angezogen hatten. In der Stahlindustrie stellte sich die Entwicklung noch dramatischer dar. Die fünfprozentige Nominallohnerhöhung, die die IG Metall für das Jahr 1968 ausgehandelt hatte, und die zwei weiteren Prozent für das Folgejahr bedeuteten hier angesichts der Inflation von neun Prozent gar einen Reallohnverlust. Integriert in die 1967 von der Großen Koalition und ihrem sozialdemokratischen Wirtschaftsminister Karl Schiller begründete »Konzertierte Aktion«, nach der die Tarifparteien verpflichtet waren, die »Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten«, sind die im DGB zusammengeschlossen Gewerkschaften zum Garanten einer Tarifpolitik geworden, »die durch Zurückhaltung gekennzeichnet war«, wie die Wirtschaftsweisen lobend erwähnten. Durch lange Laufzeiten und das faktische Einfrieren der Löhne auf dem Stand der Krisenjahre wurden vor allem die Beschäftigten in der Montanindustrie - im Bergbau waren die Abschlüsse sogar noch geringer ausgefallen - zu Gefangenen der Tarifverträge. Hinzu kamen betriebliche Bestimmungen zur Beschleunigung der Arbeitstakte, weil angesichts der weitgehenden Vollbeschäftigung die Belegschaften nicht aufgefüllt werden konnten.

Vor diesem Hintergrund begann - ausgehend von Dortmund - noch im September 1969 ein »Flächenbrand illegaler Streiks« diesen Zustand aufzukündigen, wie die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« besorgt bemerkte.

Wilde betriebliche Streiks hatte es in der Bundesrepublik immer wieder gegeben, wenn sie auch in den 1960er Jahren seltener wurden. Nicht ungewöhnlich war ebenso, dass die Streikenden den Gewerkschaftsvertretern und Betriebsräten das Verhandlungsmandat nicht länger zuerkannten. Ungewohnt war aber die nunmehrige Vehemenz, mit der dies die Hoesch-Arbeiter taten. So wurde der dem Betriebsrat vom Werkschutz ausgeliehene Lautsprecherwagen kurzerhand von den Streikenden gekapert. Sie etablierten ein »offenes Mikrofon«, um ihre Forderungen zu formulieren, und besetzten kurzerhand das Verwaltungsgebäude.

Neu war ebenso, dass das Beispiel innerhalb kürzester Zeit Schule machte. Auch wenn der Schwerpunkt in der Montanindustrie des Ruhrgebietes verblieb, so traten auch die Bergleute im Saarland, die Werftarbeiter der Howaldt Werke in Kiel und die Stahlarbeiter der Klöckner AG in Bremen in den Ausstand. Insgesamt 140 000 Beschäftigte in 69 Betrieben der gesamten Bundesrepublik beteiligten sich an den wilden Septemberstreiks und erkämpften betriebliche zusätzliche Lohnzuwächse zwischen fünf und 16 Prozent.

Die Reaktionen seitens des Establishments fielen heftig aus. Fritz Berg, Präsident des BDI, empfahl sogar, »einen totzuschießen, damit wieder Ordnung herrscht«. Und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion verkündete, hier sei »der Boden bereitet« worden, »auf dem APO und Kommunisten ernten können«. Doch alsbald wichen diese verbalen Attacken einer Generallinie, die die Gewerkschaften, die sich gleichfalls gegen die »illegalen Aktionen« gewandt hatten, wieder in die Verantwortung für den Betriebsfrieden nehmen wollte. Selbst die »Bild«-Zeitung formulierte Ende September, der DGB solle seine Funktion als »Dompteur« der Arbeiter rasch wiedergewinnen.

Die Linie gab Schiller höchstpersönlich vor, der den Beschäftigten riet, nicht auf »schändliche Streiks«, sondern »die Vertretungsmacht ihrer Gewerkschaften zurückzugreifen«, und gemeinsam mit den Unternehmerverbänden Tariferhöhungen in Aussicht stellte. Fast durchweg zweistellige Ergebnisse war den Unternehmern, dem DGB und der Bundesregierung die Befriedung wert. Tatsächlich konnte die Streikbewegung eingedämmt werden. »Das hätte die Gewerkschaft nie erreicht, wenn die Arbeiter nicht von sich aus aktiv geworden wären«, kommentierte bereits nach den ersten Abschlüssen der kommunistische Betriebsratsvorsitzende der Bremer Hütte der Klöckner AG, Heinz Röpke.

Nur noch einmal, im Sommer 1973, und getragen vor allem durch Beschäftigte mit Migrationshintergrund, flammte der Widerstandsgeist in den Betrieben auf. Und zwar, nachdem sich der DGB wieder auf eine Politik der offiziell verkündeten »Lohnzurückhaltung« mit der nun sozialdemokratisch geführten Bundesregierung verständigt hatte. Angesichts der globalen Krisenerscheinungen und zunehmender Arbeitslosigkeit sowie sekundiert von einem gestärkten Gewerkschaftsapparat, neugebildeten Werkschutzeinheiten, massenhaften Polizeieinsätzen und teilweise offen rassistischen Kampagnen in der Presse - »Wer stoppt den Türken-Terror?«, titelte die »Bild«-Zeitung -, gelang es dann allerdings nicht mehr, die Kräfteverhältnisse so nachhaltig ins Wanken zu bringen wie 1969. Die Ergebnisse sind bekannt.