»Wir sehen Filme mit dem Nervensystem«

Sebastian Schipper über seinen Film »Victoria«, Kontrollverlust als Regisseur und Wahnsinn am Set

  • Ralf Krämer
  • Lesedauer: 5 Min.

Victorias Geschichte ist simpel. Sie lernt in Berlin einen jungen Mann kennen, der mit seinen Kumpeln eine Bank überfallen muss. Filmisch ist sie allerdings denkbar kompliziert umgesetzt: »Victoria« wurde in einer einzigen Einstellung gedreht, es gibt keinen Schnitt. Warum?
Diese Idee stand ganz am Anfang. Ich glaube, sonst hätten wir den Film gar nicht gedreht. Ein klassisch gemachter Film über einen Banküberfall hätte uns gar nicht gereizt. Es ging eher um den Gedanken, da richtig in den Wahnsinn einzusteigen.

Sie mussten alle Abläufe des Films besonders intensiv proben, Ihr Einfluss bei den eigentlichen Dreharbeiten dürfte relativ gering gewesen sein. Hatten Sie keine Angst vor diesem Kontrollverlust?
Schon, aber wenn ich drüber nachdenke: So viel Kontrolle hat ein Regisseur auch sonst nicht. Der Gedanke: Ich schneide am Ende alles so, wie ich will - das ist oft Unfug. Wenn man einen Film sieht und sagt: Nee, ich glaube nicht, dass das Freunde sind, ich glaube nicht, dass die sich hassen oder lieben - dann hat das meistens damit zu tun, dass sich da ein Regisseur überschätzt hat. Man muss beim Casting die Grundlagen der Figuren herstellen. Wenn man das nicht macht, kann man noch so sehr versuchen, beim Dreh und im Schnitt die Dinge zurecht zu biegen, es wird nicht funktionieren.

Stand hinter Ihrem Entschluss »Victoria« in nur einer Einstellung zu drehen auch der Impuls: Ich weiß jetzt, wie das Filmemachen geht. Das wird mir zu langweilig, ich trete mir selbst in den Arsch.
Ja, das war auf jeden Fall so. Ich hatte irgendwann das Gefühl: Ich habe so einen guten Geschmack und ich kann das so gut mit der Kamera und mit der Musik, mit den Schauspielern läuft’s gut und die Dialoge sind auch nicht schlecht ­- aber da steckt auch eine gewisse Oberflächlichkeit drin, eine ganz elaborierte Form von Oberflächlichkeit. Die bekommt man auch gar nicht so mit, weil man immer wieder auf die Schulter geklopft bekommt und die eigenen Zweifel dann auch wegwischt und sich sagt: Nee, das ist doch eigentlich alles ganz gut gemacht.

Ihre drei bisherigen Filme transportieren Lebensgefühle, erzählen von jungen Menschen zwischen Anfang 20 und Mitte 30, zwischen Ausbildung und Eigenheim. Was vermissen Sie an ihnen?
Eine bestimmte Form von Dunkelheit, von Wut, Aggression und Verzweiflung kommt da nicht vor. Es gab in mir immer die Gier danach, etwas noch Spannenderes zu erringen und auch die Erkenntnis, dass man viele kleine Dinge aufeinanderstapeln kann, die ein Film normalerweise so braucht: Gutes Timing, gute Sprüche und so weiter ­- man kann 20 oder 70 tolle Momente aufeinander stapeln, aber die addieren sich nicht so mathematisch zu einem funktionierenden Film. Das große Ganze entsteht durch Unterströmungen, die geheimnisvoll sind und dunkel.

Klingt beinahe mystisch…
Der Punkt ist: Es wird doch immer so komisch unterschieden, zwischen Filmen, die das Herz ansprechen oder den Kopf. Ich glaube aber, dass wir Filme mit dem Nervensystem gucken. Da ist etwas ganz Unmittelbares, auf das wir reagieren. Und um diese Unmittelbarkeit zu erreichen, ist irgendeine Form von Wahnsinn und Hingabe nötig. Ich glaube, wenn man sich überlegt, welche Filme man geil fand oder wichtig oder großartig, dann kommt man nicht umhin, zu erkennen, dass es Projekte waren, die mit Katastrophe, Wahnsinn oder zumindest mit Risiko zu tun hatten.

Zum Beispiel?
Ich denke da an die Hochrenaissance des Kinos, das waren die 70er Jahre. Das war total der Wahnsinn, was Leute wie Francis Ford Coppola oder Al Pacino da teilweise gemacht und riskiert haben.

In welcher Weise sind die Filme dieser Ära, des sogenannten New Hollywood, heute noch für Sie vorbildhaft?
Man hat damals eben verstanden, dass Kino Risiko und Hingabe bedeutet und nicht so ein saturiertes »Jetzt machen wir das mal ganz professionell«. Das interessiert keinen. Es ist für mich immer zutiefst unprofessionell, wenn so ein professioneller Handwerkergestus ausgestellt wird. Das ist genau das Gegenteil von dem, was ich von Leuten erwarte, mit denen ich zusammen arbeite. Ich erwarte Leidenschaft und den Wahnsinn, auch mal einen Fehler zu machen. Fehler macht man, wenn man mal was riskiert. Fußballer, die nichts riskieren, die braucht man ja auch nicht. Die braucht keiner.

Im Februar hat »Victoria« auf der Berlinale einen Silbernen Bären bekommen. Nur ein Vierteljahr später lief kein deutscher Film in Cannes und es wurde mal wieder die tiefe Krise des Deutschen Films beschworen. Was ist da los?
Ich glaube, dass wir zu viele gute Filme haben. Um es provokant zu sagen: Wir brauchen mehr schlechte Filme. Jeder großartige Film hat die DNA von einem schlechten Film, weil eigentlich zu viel riskiert wurde. Bei Bands ist das doch genauso: Wir wollen keine Leute, die gut singen, die an der Pop-Akademie voll gelernt haben, wie man so Songs schreibt. »Voice of Germany« - das ist alles so Streichelwiese, da geht alles so ums »Richtigmachen«. Diese ganze Musik und diese ganzen Bücher, diese ganzen Filme, wo man dann irgendwie sich hinstellt und wie so ein Hund hechelt: Und? Ist doch ganz gut, oder? Ja, ist irgendwie ganz gut, aber auch stinklangweilig.

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