Ich sehe was, was du nicht siehst

Louis Althussers »Das Kapital lesen« belebt die kritische Auseinandersetzung mit Karl Marx. Von Jens Grandt

  • Jens Grandt
  • Lesedauer: 7 Min.

Seinen Namen kannten wir im kleinen Land der großen Linien, die es nicht zu überschreiten galt, wenn man Strafe vermeiden wollte. Und wir wussten, dass er quer lag zum Marxismus-Leninismus: der Franzose Louis Althusser. Ein Stern aus einem fremden Kosmos. Nach Maßgabe allwissender Schamanen eine leuchtende Erscheinung, die nur in die Irre führen konnte. Zu hören und zu lesen waren Floskeln des Verrufs, nichts von ihm wurde gedruckt.

Als ich in Braunschweig ersten Zugang fand zu diesem Philosophen, war der Mauermüll noch nicht restlos verwertet. Kollateralgewinn der Einheit. Peter Schöller, damals am Centre Nationale de la Recherche Scientifique in Paris tätig, referierte an der Technischen Universität über die in frühen Jahren sehr kritische Zeitschrift »Annales«. Althusser, der die französische KP harsch kritisierte, aber bis zu seinem Tod im Jahre 1990 Mitglied blieb, ein kommunistischer Häretiker, habe den Marxismus wieder für originelle Forschung geöffnet, erklärte Schöller. Und es war keine Schwejkiade, als er über einem Glas Rotwein im Restaurant »Schwejk« heiteren Sinnes postulierte: »Wir müssen von mehreren konkurrierenden Marxismen sprechen.« Für ostdeutsche Ohren eine unerhörte These.

Louis Althusser

ist 1918 in Birmandreis bei Algier geboren und 1990 in Paris gestorben. Er gehört zu den einflussreichsten marxistischen Theoretikern des 20. Jahrhunderts. Nach einer konservativ-katholischen, dann stalinistisch geprägten Phase bezog er eine von Sigmund Freud beeinflusste sozialkritische Position, die in seiner Theorie ideologischer Staatsapparate zum Ausdruck kommt.

Das Werk, das am Vorabend der französischen Achtundsechziger-Revolte den meisten Staub aufwirbelte, liegt nun erstmals vollständig in deutscher Fassung vor: »Das Kapital lesen«. Es gab 1970 einen Teildruck im Merve-Verlag, zwei Jahre später veröffentlichte Rowohlt die Hauptbeiträge. Aber beide Publikationen genügen weder in der Transkription der Inhalte noch in der Vermittlung der »Retraktationen« (Widerrufe, Ergänzungen) heutigen Ansprüchen. Frieder Otto Wolf hat sich der Mühe unterzogen, diese »Anfänge einer Lektüre«, wie Althusser das Experiment bezeichnete, wortgetreu (soweit dies möglich ist) neu zu übersetzen.

Den freimütigen Disput über die Schriften der Klassiker, den Althusser und seine Gruppe damit auslösen wollte, haben die Autoren - neben ihm Étienne Balibar, Roger Establet, Pierre Macherey, Jaques Rancière - in einem Seminar an der École normale supérieure 1965 selbst praktiziert. Sie betonen den unfertigen Charakter der Vorträge - womit sie ganz nah bei Marx sind, der seine Kritik der politischen Ökonomie ebenfalls als ergänzungsbedürftig aufgefasst hat.

»Das Kapital lesen« fand nicht nur, aber auch seine Adressaten in der Kapitallesebewegung. Das war Absicht, jedoch zugleich ein Reflex auf das ungebrochene, lineare Lesen, das den Text als Mythos nimmt. Die Gruppe um Althusser wollte, von Marx ausgehend, weiterführende philosophische Fragen aufwerfen, untersuchen und für den Klassenkampf nutzbar machen. Dass dieses Konzept linke wie rechte Dogmatiker vor den Kopf stieß, konnte nicht ausbleiben.

Althusser hebt hervor, dass sie sich dem »Kapital« nicht als Ökonomen und nicht als Historiker genähert hätten, sondern als Philosophen. Sie fragten nach dem »Diskurstyp«, der Marx angemessen schien, um den Gegenstand seiner Untersuchungen wissenschaftlich zu erfassen. Vereinfacht gesagt, wollten sie herausfinden, »welcher Platz dem ›Kapital‹ in der Geschichte des Wissens zukommt«.

In einem einleitenden langen Essay entwickelt Althusser eine Philosophie des Lesens, deren kristallklare Brillanz unseren Verstand fast blendet. Des »Lesens« sowohl von Objekten der realen Welt im Sinne des Erkennens, indem man sie »herausliest« aus der unendlichen Vielfalt unbekannter Dinge und Erscheinungen, als auch des kritischen Lesens der Texte darüber. Um dies zu leisten, müsse man »von einer bestimmten Vorstellung vom Lesen besessen sein«.

Für Althusser ist »die Natur oder das Reale als ein BUCH zu behandeln«. Genau so wie eine Lektüre wird auch Geschichte »gelesen«. Woraus sich eine Differenz ergibt zwischen dem »Wesen der Geschichte« und dem Lesen selbst, eine »Differenz zwischen dem Imaginären und dem Wahren«. Wie Karl Marx damit umgegangen ist, drieselt Althusser Faden für Faden am Beispiel der inhaltslosen Kategorie »Wert der Arbeit« auf, die Adam Smith verwendet. Smith sieht zwar, dass mit den Löhnen die Substitutionsmittel für den Erhalt der Arbeitskraft bezahlt werden, aber nicht, dass deswegen nur vom Wert der Arbeitskraft gesprochen werden kann, der Arbeitskraft, die Mehrwert produziert. Daraus folgert Althusser: »Das Nicht᠆sehen ist etwas, das selbst innerhalb des Sehens liegt, es ist selbst eine Form des Sehens...« Ein kryptischer Satz, aber voller Weisheit, eine erkenntnistheoretisch fundamentale Einsicht, die der Autor vielfältig erweitert.

Bei allem, was ich sehe, habe ich mitzudenken, was ich nicht sehe. Das ist Dialektik. Den bürgerlichen Ökonomen, auch den heutigen, ist dies verwehrt, sagt Althusser, weil sie »in ihrem alten Horizont befangen bleiben, in dem das neue Problem nicht sichtbar ist«. Oder so gesagt: Weil sie blind sind in Bezug auf das, was sie von sich geben, und nicht wahrnehmen, was darunter, darüber, dahinter liegt. Die beschämenden, in ihren Folgen brutalen Maßgaben der Austeritätspolitik trotz ihres Scheiterns fortzusetzen, ist eine Feier des Versehens, des Nicht-Sehens. Die Kapitel 4 bis 6 lesen sich geradezu wie eine theoretische Anleitung zur Dechiffrierung der Missverständnisse neoliberaler Ökonomie.

Aktiv lesen heißt, man muss »den Spiegel-Mythos der unmittelbaren Sicht aufgeben und ebenso den Mythos einer unmittelbaren Lektüre, und man muss die Erkenntnis als ein Produzieren begreifen«. Das gilt für alle Texte, selbstverständlich auch für die Schriften von Marx und Engels. Von hier aus ist die Lektüre der »Kapital«-Bücher wie des »Kapitals« in praxi, sind die Erkenntnisse daraus offen.

Althusser bezeichnet die Marxsche Methode der Aneignung und Erweiterung von Wissen als »symptomatische Lektüre«, weil sie in einem einzigen Prozess das in einem Text Verdeckte aufdeckt »und auf einen anderen Text bezieht, der - in notwendiger Abwesenheit - im ersten Text gegenwärtig ist«. Das erinnert an die Hermeneutik Friedrich Schleiermachers, der auf sprachliche und historische Präzision größten Wert legte, jedoch ebenfalls dazu anregte, das aus einem Text herauszulesen, was darin angelegt, aber nicht wörtlich formuliert ist. Eine diffizile Kunst, die jedoch der Gefahr unterliegt, dass der Interpret etwas unterstellt oder hineininterpretiert, was seinen Intentionen entspricht. Gegen Marx wandte Michael Heinrich im Fall der Smithschen Wertvorstellungen ein: Smith konnte gar nicht auf den Mehrwert kommen, weil er ausschließlich in Kategorien der empirischen Ebene dachte.

Die Gruppe um Althusser interessierte, wie Marx »verdeckte« ökonomische Phänomene erkannt und in Begriffe gegossen hat - als Empfehlung für aktuelle Analysen - und wie Marx nach einem Begriff suchte, der das Ganze der modernen kapitalistischen Produktionsweise, das Feld der historischen Formation mit ihren Elementen bzw. Objekten vereint. Das klingt sehr akademisch, ist aber, wie Althusser darlegt, »ein grundlegendes und dramatisches theoretisches Problem«. Dramatisch, weil sich die bürgerliche Ökonomie den strukturellen Bedingungen gesellschaftlicher Erscheinungen (etwa der Krisen, der Arbeitslosigkeit) zu keiner Zeit gestellt hat. Marx habe dieses Problem auf praktische Weise zu lösen versucht, ohne dass er eine entsprechende Frage formuliert hätte. Er benutzte Metaphern, etwa wenn er vom »besonderen Äther« spricht, der alles in ihm stehende Dasein bestimmt. Das Fehlen einer Definition des »homogenen Raumes« markiere Lücken in der Theorie, weshalb Marx auf alte hegelianische Formeln ausweichen musste.

Althusser schlägt für die ebenso unsichtbare wie sichtbare, aber immer anwesende Wechselbeziehung den Begriff »Wirksamkeit einer Struktur auf deren Elemente« vor. (Ein Topos, der die beispiellose Komplexität heutiger Verhältnisse erfasst, die uns manchmal zum Verzweifeln bringt. Die »Überdetermination« ist das Synopsenfeuer unserer Zeit; sie hat nicht nur Konsequenzen für den Erkenntnisprozess, sondern auch für die praktische Tätigkeit.) Er sieht in diesem Begriff den »abwesenden Schlussstein« des Werkes von Karl Marx, zugleich das Objekt einer bisher nie verfolgten Forschungsrichtung. Das ist eine völlig neue Sichtweise. Aus diesem Grund beantworten die Autoren die anfangs im Raum schwebende Frage positiv: »Das Kapital« stellt »den Gründungsakt einer neuen Disziplin dar, den Gründungsakt einer Wissenschaft - und also ein wahrhaftes Ereignis, eine theoretische Revolution... Und wenn diese neue Wissenschaft die Theorie der Geschichte ist...?«

Die Originaltexte erschließen sich nicht leicht; das liegt auch an der unkonventionellen Denkweise des französischen Philosophen, dessen ziselierender Geist keine Grenzen zu kennen scheint. Am besten, der Leser beginnt mit dem Nachwort von Frieder Otto Wolf. Das allerdings auch keine sensitiven Schübe auslöst. Wolf ist ein kluger Mann, doch mit französischem Esprit nicht sonderlich begabt, so dass manche verquasten Sätze das Verständnis erschweren. Alles in allem hat man es mit einer anregenden Publikation zu tun, einem Versuch, wie Ansätze für neue philosophische Debatten gefunden werden können.

Louis Althusser: Das Kapital lesen. Mit Beiträgen von Étienne Balibar, Roger Estrablet, Pierre Macherey, Jacques Rancière. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2015. Band 4 der »Gesammelten Schriften« von Louis Althusser, hrsg. von Frieder Otto Wolf. 764 S., 49,90 €.

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