nd-aktuell.de / 20.06.2015 / Wissen / Seite 24

Systemisches Versagen

Jürgen Amendt über den Skandal, dass Tausende von Jugendliche durch die Maschen der Sozial- und Bildungssysteme fallen

Dem deutschen Sozial- und Bildungssystem musste man einst zugute halten, dass es sich wirklich um alle kümmerte. Der staatlichen Fürsorge entkam niemand. Wer in der Schule scheiterte, wurde hernach in Bildungsmaßnahmen gesteckt, in Werkstätten beschäftigt - irgendein Platz in der Gesellschaft fand sich für fast jeden. Wer dies nicht wollte, musste in der alten BRD einige Mühe darauf verwenden, dem System zu entfliehen. Das Entkoppeln von den Institutionen war an eine individuelle Absicht gebunden.

Mit den neoliberal motivierten »Reformen« der 1990er und Nullerjahre hat sich das geändert. Jährlich verlassen Tausende von Jugendlichen die Schule ohne Abschluss - in Berlin betrug die Quote 2014 über neun Prozent -, doch viele fallen anschließend aus allen Fördersystemen heraus. Wer nicht das Glück hat, in einigermaßen stabilen wirtschaftlichen familiären Verhältnissen zu leben und von seinem sozialen Umfeld unterstützt zu werden, gehört schnell zu den sogenannten Disconnected Youth. Das aktive Bemühen des Staates um den Nachwuchs endet heute mit dem Ende der Schulpflicht. Wer keinen Abschluss hat, muss sich selbst darum kümmern, diesen nachzuholen, von den Schulen kann er wenig Unterstützung erwarten.

Die Schulen sind jedoch selbst die Getriebenen. Die Klassen sind überfüllt, die strukturellen Probleme groß. So fehlen in Berlin Schulplätze für Erstklässler und wissen derzeit viele künftige Siebtklässler noch nicht, auf welche weiterführende Schule sie ab August gehen können. Unter diesen Bedingungen ist es verständlich, dass sich die Schulleitungen nicht noch um Schüler ohne Abschluss kümmern können. Das Entkoppeln von den Institutionen ist heute nicht mehr Ergebnis einer individuellen Absicht, sondern das eines systemischen Versagens.