Durch die Maschen gefallen

Bildungsrauschen

  • Lena Tietgen
  • Lesedauer: 3 Min.

»Meine Mutter wohnt in Spanien, und mein Vater - keine Ahnung, wo der wohnt. Meine Eltern hab ich jetzt sieben Jahre nicht mehr gesehen.« Was auf spiegel.de dieser Tage zitiert wurde, zeigt einen Ausschnitt aus einer gern verdrängten bildungspolitischen Katastrophe: das Leben von jungen Menschen zwischen 15 und 27 Jahren, die von keinen Institutionen wie Schule, Ausbildung, Arbeit oder Jobcenter erfasst werden. Deutschland zählt 21 000 sogenannte institutionell entkoppelte junge Menschen oder auch Disconnected Youth, wie sie auch genannt werden.

In einer aktuellen Studie dokumentiert das Deutsche Jugendinstitut (DJI) auf dji.de einen Prozess der Vereinsamung, der mit Vernachlässigung, Verwahrlosung und Gewalt im häuslichen Umfeld beginnt. Mit den daraus resultierenden Problemen stehen dann die Jugendlichen vor der Schwierigkeit, geeignete Hilfsangebote zu finden. Gelangen sie trotzdem in die Obhut der Jugendhilfe, hört diese in der Regel mit der Volljährigkeit auf, ungeachtet dessen, ob der Klient über eine »ausreichend persönliche Reife« verfügt. Die im Gesetz vorgesehene Nachbetreuung findet nicht genügend statt. Hier ist die zweite Sollbruchstelle. Das DJI schlägt deshalb vor, den gesetzlichen Rahmen auszuschöpfen und die Betreuung über den 18. Geburtstag hinaus zu verlängern. Zur Orientierung der Jugendlichen sollten Angebote »gebündelt« und die Hilfestruktur übersichtlich und entbürokratisiert gestaltet werden. Im übrigen sollten alle Pädagogen für Kindeswohlgefährdung sensibilisiert und hierin geschult werden.

In welchem Ausmaß das Schulsystem versagt, zeigen Kommentare wie von ich.persönlich: »Um irgendwelche staatliche Unterstützung zu bekommen, ist ein Papierkrieg sondergleichen zu führen. Ich habe selber an einer Hauptschule in einem Brennpunktviertel gearbeitet und weiß, wie schwer es vielen Jugendlichen fällt, solche Dinge in Angriff zu nehmen. Da fehlt es an Vertrauen in die Behörden, an kurzen Wegen und einfachen Strukturen. Und an ausgebildeten Kräften vor Ort. Wer inklusive Sekundarschulen ins Leben ruft, muss dafür Verantwortung tragen, dass Kinder aus schwierigen Verhältnissen und mit Auffälligkeiten im psychosozialen Bereich auch dort die Betreuung bekommen, die ihnen zusteht. An meiner Schule gab es dafür einen Sozialarbeiter mit 6 Wochenstunden.« Für die Lehrkraft J. Dahlbeck sind »Kinder aus Problemfamilien im Unterricht auffällig. Solche Fälle werden selbstverständlich gemeldet. Aber dann passiert nichts weiter. Der Hinweis versickert bei irgendeiner Behörde. Die Lehrerbelegschaft kennt dann die Situation des Kindes, kann aber nichts weiter ausrichten, als zu hoffen, dass das Jugendamt vielleicht irgendwann mal tätig wird. Da Behörden heutzutage an chronischem Personalmangel leiden, kann man sich für die Kinder nur wünschen, dass sie zu den Entkoppelten zählen.« kodu denkt, »die 21 000 Jugendlichen sind eher die Spitze eines Eisberges, dessen verborgene Dimension gefährlich zunimmt.« Lena Tietgen

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