Befreiung oder Annexion?

Wie es zum Anschluss des Baltikums 1940 an die Sowjetunion kam. Von Karl-Heinz Gräfe

  • Karl-Heinz Gräfe
  • Lesedauer: 5 Min.

In den Geheimprotokollen des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes vom 23. August 1939 sowie des am 28. September folgenden Freundschaftsvertrages grenzten die Führungen Nazideutschlands und der UdSSR ihre Einflusssphären in Osteuropa ab und setzten diese dann auch kurz darauf durch. Die Rote Armee besetzte 17 Tage nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 die mehrheitlich ukrainisch und weißrussisch besiedelten Ostgebiete, die sodann mit den Unionsrepubliken Ukraine und Belorussland »wiedervereinigt« wurden. Das war ein Bruch der völkerrechtlichen Festlegungen des Versailler Vertragssystems.

Die nach dem Ersten Weltkrieg aus den ehemaligen baltischen Provinzen Russlands entstandenen und 1921 in den Völkerbund aufgenommenen neuen Staaten Estland, Lettland und Litauen waren ebenfalls zum sowjetischen Einflussbereich bestimmt worden. Deren faschistoide Regime unter Konstantin Päts, Kärlis Ulmanis und Antanas Smetona stimmten unter Druck Moskaus und Berlins im Herbst 1939 Verträgen über gegenseitigen Beistand zu, die u. a. die Stationierung von 70 000 sowjetischen Militärs in Dutzenden See-, Luft und Landstützpunkten vorsahen. Im Unterschied zu Nazideutschland, das bereits im März 1939 das völkerrechtlich Litauen zugesprochene Memel-Gebiet annektiert hatte, waren die Litauer dem Sowjetstaat hingegen dankbar, dass er ihnen das 7000 Quadratkilometer umfassende und 550 000 Einwohner (davon 76 Prozent Polen und 28 Prozent Juden) zählende Gebiet um Vilnius ein halbes Jahr später »schenkte«. Vor allem in Litauen, aber auch in Estland und Lettland gab es prorussische Stimmung in der Bevölkerung wie in den politischen Eliten, denn nur dank der UdSSR sei man vom Krieg verschont worden, den die Nazis gegen Mittel- und Westeuropa begonnen hatten.

Da die Beistandsverträge auch vom Völkerbund registriert wurden, schien die staatliche Unabhängigkeit der drei baltischen Länder unangetastet. Stalin gab seinen Sicherheitskräften, Militärs und Diplomaten die strikte Weisung, sich nicht in deren innere Angelegenheiten einzumischen und keinerlei »revolutionäre Aktionen« gegen die dortigen Regime zu initiieren oder zuzulassen. Er ließ dies auch jene wissen. So sagte er zum lettischen Außenminister Vilhelms Munters: »Ihr traut uns nicht und meint, dass wir Euch erobern wollen. Wir könnten das jetzt sofort tun, aber wir machen es nicht.« Sodann ließ er seinen Gesprächspartner wissen, dass in den deutsch-sowjetischen Gesprächen im August 1939 die Nazis den in die Ostsee mündenden Fluss Daugava (Düna) zur Grenzlinie zwischen den Einflusssphären des Deutschen Reiches und der UdSSR bestimmen wollten, was eine Teilung Lettlands bedeutet hätte. Man sei damit nicht einverstanden gewesen, betonte Stalin, und habe erklärt, »dass man mit einem Volk so nicht umgehen könnte«. Er fügte hinzu: »Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Deutschen ihre Ansprüche wieder erheben werden.«

Die Minderheit der Baltendeutschen folgte dem »Heim-ins-Reich«-Ruf in Hitlers Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939. Wer nicht gehen wollte, dem wurde von deutschen und baltendeutschen Naziführern der Ausschluss aus der »deutschen Volksgemeinschaft« angedroht. Die von Berlin vorerst nur mit den Regierungen in Tallinn und Riga vereinbarten Umsiedlungsverträge waren »Rechtsgrundlage« für die Zwangsumsiedlung. Insgesamt 83 000 Esten und Letten wurden unter der Regie des »Reichskommissars für die Festigung des deutschen Volkstums«, SS-Führer Heinrich Himmler, im deutsch besetzten Polen im sogenannten Warthegau als »Reichsbürger zur deutschen Aufbauarbeit« angesiedelt. Sie bekamen Güter, Bauernhöfe, Fabriken, Arzt­ und Rechtsanwaltspraxen, Banken oder Handelsniederlassungen zugesprochen, die vertriebenen oder bereits ermordeten Juden und Polen gehört hatten. Die Bankguthaben der auf Kosten Polens »entschädigten« Baltendeutschen wurden auf ein Sonderkonto der »Deutschen Treuhand« überwiesen und vom Nazistaat für die Bezahlung der umfänglicher gewordenen deutschen Rohstoffimporte aus dem Baltikum genutzt. Im März 1941 wurden auch 50 000 Litauendeutsche und 20 000 Litauer, die sich als sogenannte Volksdeutsche ausweisen konnten, nach Deutschland »repatriiert«.

Was nun aber bewog Stalin, die Baltenstaaten im Frühsommer 1940 militärisch zu annektieren und seinem Imperium als Unionsrepubliken anzuschließen? Er erkannte das mit der deutschen Besetzung und Vorherrschaft in Westeuropa inzwischen rapide veränderte Kräfteverhältnis. Die Verlegung großer Wehrmachtsverbände an die Westgrenze der UdSSR ist ihm ebenso nicht entgangen. Er wusste um den systematischen und bedrohlichen Ausbau des deutschen Aufmarschgebietes (Otto-Programm) vor seiner Nase. Trotz sowjetischer Stützpunkte im Baltikum setzte das faschistische Regime in Berlin samt dem deutschen Finanz- und Industriekapital alles daran, in den entstehenden europäischen »Großwirtschaftsraum« unter deutscher Hegemonie auch die baltische Region einzubeziehen. Hinzukam, dass die faschistischen Regierungen Estlands, Lettlands und Litauens sich selbst Hitler als deutsche Protektorate offerierten. Stalin sah darin einen Angriff auf die ihm zugesprochene baltische Einflusssphäre und damit auf die Sicherheit der Sowjetunion. Und so ließ er an den Ostgrenzen der baltischen Staaten bis Mitte Juni 1940 Truppen der Roten Armee in einer Gesamtstärke von 435 000 Mann, ausgerüstet mit 3500 Panzern, 2600 Flugzeugen und 800 Geschützen, aufmarschieren.

Eine Direktive der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee vom 13. Juni 1940 bestimmte: »Wir werden die Sicherheit der UdSSR gewährleisten, die Zugänge zu Leningrad und unsren nordwestlichen Grenzen vom Meer durch einen festen Riegel verschließen. Über die Häupter der herrschenden volksfeindlichen Clique in Estland, Lettland und Litauen werden wir Seite an Seite mit den Werktätigen dieser Völker diese Länder von der ausbeuterischen Banden der Kapitalisten und Großgrundbesitzer befreien.« Als Anlass zum Einmarsch wurde die ständige Verletzung der Beistandspakte mit der Sowjetunion durch die Regierungen der drei baltischen Staaten genannt.

Um kriegerische Handlungen zu vermeiden, unterzeichnete als erste die litauische Regierung am 15. Juni 1940 ein Übereinkommen zum Truppeneinmarsch - gegen den Widerstand von Präsident Smetana, der sich sogleich nach Deutschland absetzte. Es folgten Estland und Lettland. An Stelle der alten faschistischen Regime wurden noch im Juni von einheimischen Kommunisten geführte Satellitenregierungen installiert, die sich im Juli durch Scheinwahlen bestätigen ließen. Sie vollendeten im Zusammenwirken mit Stalins Emissären im August 1940 den Anschluss des Baltikums an die Sowjetunion als Unionsrepubliken. Der völkerrechtswidrige Akt war verbunden mit Verhaftungen und Zwangsdeportationen von 70 000 tatsächlichen und vermeintlichen Gegnern der Sowjetisierung. Der sich seit Juni 1940 formierende starke antisowjetische und antikommunistische Untergrund (ca. 30 000 Mann) begrüßte den am 21. Juni 1941 entfesselten deutschen Eroberungskrieg gegen die UdSSR. Die Naziokkupanten wurden von einer baltischen Kollaborationsarmee von 300 000 Mann unterstützt.

Letztlich hatte der Anschluss des Baltikums an die UdSSR nicht den erhofften Gewinn an Sicherheit gebracht. Litauen wurde schon am siebten und Lettland am zehnten Kriegstag von der Wehrmacht eingenommen. Die sowjetische Annexion wurde durch die westalliierten Mächte 1945 in Jalta und Potsdam wie auch später durch die UNO und OSZE völkerrechtlich sanktioniert. Erst im Zuge des Kollapses der UdSSR 1990/91 entstanden Estland, Lettland und Litauen als Staaten wieder und gelangten nunmehr in den Einfluss der Europäischen Union und der NATO.

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