nd-aktuell.de / 22.06.2015 / Politik

Habermas liest SYRIZA - aber vor allem Berlin die Leviten

Philosoph nennt Weigerung der Gläubiger, Schuldenerleichterung für Griechenland zu akzeptieren, anstößig und skandalös

Berlin. Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas hat die Politik der Bundesregierung gegenüber Griechenland scharf kritisiert. In einem Beitrag für die »Süddeutsche Zeitung«[1] nannte Habermas »die Hartleibigkeit, mit der die deutsche Regierung ihre Führungsrolle wahrnimmt«, einen »Skandal im Skandal«. Deutschland verdanke »den Anstoß zu dem ökonomischen Aufstieg, von dem es heute noch zehrt, der Klugheit der Gläubigernationen, die ihm im Londoner Abkommen von 1953 ungefähr die Hälfte seiner Schulden erlassen haben«.

Habermas forderte, »sich das Anstößige, ja Skandalöse« der Weigerung der Gläubiger, eine Schuldenerleichterung für Griechenland zu akzeptieren, klarzumachen: »Der Kompromiss scheitert nicht an ein paar Milliarden mehr oder weniger, nicht einmal an dieser oder jener Auflage, sondern allein an der griechischen Forderung, der Wirtschaft und der von korrupten Eliten ausgebeuteten Bevölkerung mit einem Schuldenschnitt - oder einer äquivalenten Regelung, beispielsweise einem wachstumsabhängigen Schuldenmoratorium - einen neuen Anfang zu ermöglichen«. Stattdessen würden die Gläubiger »auf der Anerkennung eines Schuldenberges« bestehen, »den die griechische Wirtschaft niemals wird abtragen können. Wohlgemerkt, es ist unstrittig, dass ein Schuldenschnitt über kurz oder lang unvermeidlich ist. Die Gläubiger bestehen also wider besseres Wissen auf der formellen Anerkennung einer tatsächlich untragbaren Schuldenlast«.

Habermas ging auch mit der SYRIZA-geführten Koalition hart ins Gericht. Er könne allerdings »nicht beurteilen, ob dem taktischen Vorgehen der griechischen Regierung eine überlegte Strategie zugrunde liegt, und was daran mit politischen Zwängen, was mit der Unerfahrenheit oder der Inkompetenz des handelnden Personals zu erklären ist. Über die verbreiteten Praktiken und die gesellschaftlichen Strukturen, die möglichen Reformen entgegenstehen, bin ich unzureichend informiert«.

Er schreibt aber auch: »Das schwache Auftreten der griechischen Regierung ändert nichts an dem Skandal, der darin besteht, dass sich die Politiker in Brüssel und Berlin weigern, ihren Kollegen aus Athen als Politiker zu begegnen. Sie sehen zwar wie Politiker aus, lassen sich aber nur in ihrer ökonomischen Rolle als Gläubiger sprechen.« Die politischen Eliten in Europa dürften sich aber »nicht länger vor ihren Wählern verstecken und selber den Alternativen ausweichen, vor die uns eine politisch unvollständige Währungsgemeinschaft stellt. Es sind die Bürger, nicht die Banken, die in europäischen Schicksalsfragen das letzte Wort behalten müssen«, so Habermas - der auch die Rolle der Medien bei der »postdemokratischen Einschläferung der Öffentlichkeit« kritisierte: den »Gestaltwandel der Presse zu einem betreuenden Journalismus bei, der sich Arm in Arm mit der politischen Klasse um das Wohlbefinden von Kunden kümmert«. nd

Links:

  1. http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/europa-sand-im-getriebe-1.2532119