nd-aktuell.de / 18.07.2015 / Kultur / Seite 21

Streit um die Statistik

Medien, Politik und Sozialfunktionäre verharmlosen das Armutsproblem.

Thomas Gesterkamp

Guido Bohsem, Wirtschaftsredakteur der »Süddeutschen Zeitung«, radelte kürzlich durch Mecklenburg-Vorpommern - und sah Dinge, die er auf seine ganz eigene Weise interpretierte: »Glaubt man dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, ist die Tour eine ziemlich traurige Angelegenheit.« Laut den Aussagen des Armutsberichtes des Verbandes nämlich durchquere man »das Armenhaus der Republik, eine Art großflächigen Ostküsten-Slum«. 24 Prozent der Menschen in dem nordöstlichen Bundesland sind dem aktuellen Jahresgutachten zufolge arm oder von Armut bedroht - der höchste Wert in einem deutschen Flächenstaat. Bohsem hält das für »total übertrieben« - und beruft sich auf eigene Erfahrungen. Mecklenburg-Vorpommern sei eine Region, in der »die Radwege besser sind als manche Autobahnbrücke in Westdeutschland«. Innenstädte und Dörfer seien »rausgeputzt, die Vorgärten gepflegt, vor den Häusern stehen Mittelklassewagen«.

Den Autor stören die Kriterien, auf denen nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Europäischen Union die Armutsstatistik beruht. Diesen zufolge gelten Menschen als arm, wenn sie weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens zur Verfügung haben.

Bohsem findet »diesen Ansatz derartig grob, dass er völlig in die Irre führt« - und stellt eigenwillige Berechnungen an, die auf anderen Voraussetzungen basieren. »Angenommen, alle Menschen in Deutschland würden auf einen Schlag 100 Mal so viel verdienen wie bisher.« Dann wäre die Republik »reicher als jeder andere Staat der Welt, doch nach den Zahlen des Paritätischen ginge es uns kein bisschen besser«. Noch immer läge die mittlere Armutsquote bei über 15 Prozent, rechnet Bohsem vor.

Ob sich der Meinungsmacher aber nun auf Urlaubsanekdoten oder auf konstruierte Szenarien beruft, er liegt schlicht falsch. Jeder Student der Wirtschaftswissenschaft lernt die Mechanismen der Lohn-Preis-Spirale: Wenn die Einkommen um das Hundertfache steigen, werden auch die zu kaufenden Produkte entsprechend teurer. Ein gewaltiger Inflationsschub stellt die alten Verhältnisse wieder her.

Armut ist relativ

Armut ist, wie auch Reichtum, immer eine Frage der Relation. An der Polarisierung oder gar Spaltung einer Gesellschaft ändert sich durch höhere Einkommen und Preise nichts. Und dass man Bedürftigkeit nicht unbedingt sieht, dass sich hinter geputzten Fenstern und properen Rasenflächen durchaus soziale Not verstecken kann, wird gerade für den ländlichen Raum seit langem in der soziologischen Forschung beschrieben.

Bohsems Text fügt sich in eine Welle von Kommentaren, die seit Monaten die wissenschaftliche Seriosität der Armutsberichterstattung attackieren: »Zerrbild«, »Etikettenschwindel«, »Arm auf dem Papier«, »Statistische Winkelzüge«, »Zweifelhaftes Maß«, »Deutschland rechnet sich arm« oder »Eine neue Definition, bitte!« lauten die entsprechenden Schlagzeilen der »Zeit«, der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« oder der »Neuen Zürcher Zeitung«. Die »Süddeutsche« stellt die verärgerte (und rhetorisch gemeinte) Frage, warum ein Sozialverband immer wieder auf Armut und soziale Ausgrenzung hinweist - und liefert die Antwort gleich hinterher: »Die Zahlen stützen seine Mission. Etwas böser kann man auch sagen: seinen Geschäftszweck.«

Es lässt sich darüber streiten, wessen Mission ehrbarer ist: die eines engagierten Anwaltes sozial Benachteiligter - oder die eines Wirtschaftsjournalisten, dessen Verharmlosung des Problems sich bestens einbettet in das entsprechende publizistische Umfeld. Redaktionell geprägt ist dieses von hörigen Berichten über Bilanzpressekonferenzen und dem seitenlangen Abdruck von Börsenkursen als Service für Geldanleger, garniert von den dazu passenden Anzeigen großer Konzerne. Ein Schelm, wer sich bei diesem Geschäftszweck etwas Böses denkt.

Weniger Armut, mehr Sicherheit

Selbstverständlich lassen sich die Armutsberichte noch verbessern: Ergänzende Kriterien, die Ungleichheit exakter messen, können sinnvoll sein. Ebenso wenig spricht dagegen, einen zweiten, enger gefassten Armutsbegriff einzuführen, der ausweglose Notlagen beschreibt. Hilfreich ist auch ein Blick auf die Definition der Vereinten Nationen, die Kriterien wie Teilhabe, Bildungsniveau und die Lebenserwartung einbezieht.

Beispiele aus Skandinavien und anderswo belegen ein nur auf den ersten Blick verblüffendes Phänomen: In Ländern mit geringen Einkommensunterschieden geht es nicht nur den Armen, sondern auch der Mittelschicht und sogar den Reichen besser. Es gibt zum Beispiel gute Schulen, ein funktionierendes Gesundheitssystem und mehr Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern. Und eine entspanntere Sicherheitslage: In egalitär orientierten Gesellschaften gehen Obdachlosigkeit und Kriminalität zurück; die Zahl der Einbrüche, der Raub- und Diebstahlsdelikte sinkt ebenso wie die der Gewaltverbrechen. Auch die Anfälligkeit für autoritäre, rassistische und rechtsextreme Einstellungen lässt nach.

Aberkennung des Bedürftigseins

Selbstverständlich ist Armut in wohlhabenden Staaten etwas völlig anderes als in Bangladesch oder Burkina Faso. Hierzulande muss niemand hungern - doch Bedürftigkeit bezieht sich stets auf das Gemeinwesen, in dem die Betroffenen leben. Es geht um gesellschaftliche Teilhabe, um das Vermeiden von Ausschluss und Ausgrenzung.

Die mediale Kritik zielt darauf, den Begriff der »relativen Armut« in Frage zu stellen. Neben Wirtschaftsliberalen und Konservativen zeigen sich auch Sozialdemokraten und sogar Sozialfunktionäre beeindruckt. So wirft Caritas-Generalsekretär Georg Cremer seinen Kollegen vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Stimmungsmache und Skandalisierung vor. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ärgert sich, dass negative Botschaften über die Schere zwischen Arm und Reich die ökonomischen Erfolge der Großen Koalition in Misskredit bringen. Die SPD-Politikerin hat eine Überprüfung der statistischen Maßstäbe angekündigt. Die bisherige Berechnung der Armut, so heißt es, führe nicht mehr zu vernünftigen Ergebnissen. So wird den Bedürftigen ihre Bedürftigkeit kurzerhand aberkannt.