nd-aktuell.de / 18.07.2015 / Kultur / Seite 26

Einfach zu warm angezogen

Iris Rapoport, Berlin und Boston

Als Schwangere erspäht man mit geschärftem Blick gleichfalls andere Schwangere. Ein paar Jahrzehnte später Ähnliches, bewirkt durch die Enkel. Plötzlich sieht man überall nette kleine Babys - und das ist in Berlin nicht anders als in Boston.

Doch eine Frage lässt mich nicht los: Sollten Eltern an der Ostküste der USA bessere Instinkte haben als jene in Berlin? Es ist auffällig - der Nachwuchs in Boston ist meist den Temperaturen angemessen bekleidet. In Berlin dagegen dauern mich häufig die vermummten Babys, denen bei durchaus vergleichbaren Bedingungen trotz Hitze selbst im Wohnraum das Wollmützchen nicht abgenommen wird. Gut gemeint, sicherlich, aus gesundheitlicher Sicht aber nicht unbedenklich.

Die Evolution hat Neugeborene bestens gegen Unterkühlung gewappnet. Ohne Fell und oft in Kälte hätte unsere Spezies sonst wohl kaum eine Überlebenschance gehabt. Säuglinge besitzen in den ersten Lebensmonaten neben dem gewöhnlichen weißen Fett zusätzlich braunes Fettgewebe. Dessen Hauptaufgabe ist es, Energie als Wärme freizusetzen. Dadurch wird die Körpertemperatur aufrechterhalten.

Im Unterschied dazu ist der Schutz gegen Überhitzung unglaublich schlecht! Generell geben wir überschüssige Wärme durch Schwitzen ab. Das funktioniert gut, weil Verdunstung von Wassermolekülen über die Haut viel Energie verbraucht und so kann überschüssige Wärme abgeführt werden. Das gilt in jeder Lebensphase. Nur gibt es da abhängig vom Alter gewichtige Unterschiede! Der Säugling besitzt, da er so klein ist, viel weniger Wasser und damit weniger Reserven. Außerdem hat er, bezogen auf seinen Körper, eine größere durch die Haut gebildete Oberfläche als ein Erwachsener. Schwitzen bringt deshalb einen erhöhten Wasserverlust mit sich.

Und das ist noch nicht alles. Schon das Kleinkind vermag etwas, was dem Säugling noch nicht gegeben ist: Um dem gefährlichen Wasserverlust entgegenzuwirken, wird beim Schwitzen die Flüssigkeitsausscheidung über die Niere verringert. Das Harnvolumen wird reduziert, es wird ein konzentrierter Harn ausgeschieden. Und genau das kann der Säugling noch nicht. Es fehlt ihm das antidiuretische Hormon (ADH, auch Vasopressin genannt), das die Harnkonzentrierung ermöglicht. Dieses Hormon wird erst etwa vom ersten Lebensjahr an entsprechend dem Bedarf produziert. Aus all diesen Gründen kann der Wasserverlust beim Säugling schnell beträchtlich werden.

Unbehaglichkeit signalisierendes Schreien ist noch die mildeste Folge - wenn man davon absieht, dass das den Wasserverlust weiter erhöht. Fieber, Eindickung des Blutes, Krämpfe drohen, im Extremfall sogar lebensbedrohliche Austrocknung. Und das alles aus missverstandener Fürsorglichkeit!

Was kann man tun? Nun, ganz einfach: Wenn man den Säugling so kleidet, wie man es für sich selbst für angenehm hält, liegt man gewiss richtig. Und wenn man dann bei heißem Wetter ausreichend zu trinken gibt, kann gar nichts passieren.