nd-aktuell.de / 28.07.2015 / Brandenburg / Seite 12

Kindheit in Deutschland und Polen

Literaturkolloquium Brandenburg und Kulturzentrum Poznan räumen gemeinsam Vorbehalte aus

Jens Grandt
Autoren erarbeiten eine zweisprachige Anthologie zum Thema Kindheit und lesen in deutschen und polnischen Städten.

Das Literaturkollegium Brandenburg hat sich mit dem Zentrum für kulturelle Entwicklung und Erziehung im polnischen Poznań zusammengetan, um eine zweisprachige Anthologie »Kindheit in Deutschland / Kindheit in Polen« zu erarbeiten. Schirmherrin ist Gesine Schwan, einstige Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).

Wenn eine Autorengemeinschaft ihr 25-jähriges Jubiläum mit einem Projekt feiert, in das sich etwa zu gleichen Anteilen deutsche und polnische Romanciers, Storyschreiber, Lyriker einbringen, so ist dies im Zeitalter marktgängiger Individualisierung recht ungewöhnlich. Was über die Oder hinweg kulturelle Pontons schlägt, ist die Tatsache, dass die beiden Autorengruppen in freimütigen Begegnungen sich und ihre Problemwelt kennenlernen. Mit einem Lesemarathon im Herbst dieses Jahres in deutschen und polnischen Städten soll das Verständnis für unterschiedliche Kindheitsmuster vermittelt werden - und das auch in Orten, die durch die Austrocknung der Kulturlandschaft kaum literarische Ereignisse erleben.

Wie entsteht solch ein unter Mitgliedern der schreibenden Zunft seltenes Netzwerk? Zunächst durch persönliche Bekanntschaften. Die Idee, grenzüberschreitend Kindheitserlebnisse zu erzählen, entstand in der Potsdamer Literaturwerkstatt. Den Romanauszügen Heinrich von der Haars (»Mein Himmel brennt«, »Der Idealist«) standen die märchenhaften Mädchengeschichten von Justyna Fijalkowska gegenüber, einer deutsch schreibenden Polin, die in Potsdam lebt.

»Wir waren fasziniert, wie leicht wir Zugang fanden in fremd erscheinende Erfahrungswelten, wenn man Kindheitsgeschichten zuhört. Da lösen sich fremdenfeindliche Vorbehalte ganz schnell auf, und du hast plötzlich keine Scheuklappen mehr«, meint Heinrich von der Haar, der Vorsitzende des Kollegiums und Initiator des Experiments. Treibende Kraft auf polnischer Seite war und ist Lucja Dudzińska in Poznań, eine mehrfach preisgekrönte Lyrikerin, Gründerin und Leiterin der Literarischen Gruppe »Na Krechę« (In der Kreide). Ihre Gedichte wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Unter den namhaften Autorinnen ist auch die Literaturwissenschaftlerin Brigitta Helbig-Mischewski, die an der Europa-Universität Viadrina lehrt. Ihr Buch »Ossis und andere Leute« erregte 2012 Aufmerksamkeit.

Wolfgang Hempel wartet auf mit der biografischen Reflexion »Ein kleiner Nazi bis zum letzten Tag«. Sein Patenonkel war während der deutschen Besetzung Abschnittskommandeur in Lodz. Hempel fand es unangemessen, als Tourist nach Polen zu reisen - und wird mit dem Literaturkollegium zum ersten Mal in Lodz lesen.

Die älteren Autoren beschreiben eine Nachkriegskindheit mit all ihren Konflikten, Hoffnungen, Verwandlungen und Lasten, mit Hass, Vertreibung, tastendem Verständnis, neuer Liebe. Die jüngeren Autoren erzählen von der ersten Ohrfeige, der ersten Trennung, von Freundschaft, Missbrauch, Verrat, frühem Tod. Das alles wird spannend, leidenschaftlich, berührend und mitunter auch ironisch oder humorvoll wiedergegeben. Kindheit ist die Wurzel, aus der wir geworden sind. Mit dem Ziel, Fremdes und Eigenes mit neuen Augen zu sehen und fest haftende, historisch bedingte Vorurteile von beiden Seiten zu entkräften, ist der Band ein Beitrag zum Verstehen und zur Versöhnung.

Vorgesehen sind Lesungen und Gespräche mit dem Publikum unter anderem in Frankfurt (Oder), Potsdam, Berlin, Bad Freienwalde und Letschin, in Kraków, Poznań, Wroclaw und Zielena Góra. Reisekosten müssen getragen, Dolmetscherinnen bezahlt werden. Die polnische Seite subventioniert das verdienstvolle Vorhaben. Die brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, die sich auch der Pflege grenznaher Zusammenarbeit verpflichtet fühlt, hat einen Antrag auf Förderung aus formalen Gründen abgelehnt. Das große Engagement für gute Nachbarschaftsbeziehungen verdiente eine Revision der Entscheidung.