Signale für taube Ohren

Chochlea-Implantate helfen am besten im frühen Kindesalter. Von Gert Lange

  • Gert Lange
  • Lesedauer: 4 Min.

Erst war es ein furchtbarer Verdacht, dann, als Sylvia K.* weder durch lautes Händeklatschen noch durch das Aufeinanderschlagen von Topfdeckeln zu erschrecken war, mussten die Eltern sich eingestehen, dass ihre Tochter wohl stark schwerhörig ist. Das 2009 eingeführte Hörscreening in Geburtskliniken gab es damals noch nicht. Der Arzt präzisierte die Diagnose: Sylvia war von Geburt an taub.

Heute ist Sylvia 26 Jahre alt, hat ein Studium begonnen und lauscht den Vorlesungen nicht anders als ihre Kommilitonen, sie telefoniert, lacht über Witze und erzählt mit ausschweifender Geste selber welche. Möglich wurde dies, weil ihr als Zweijährige eine Hörprothese eingesetzt worden ist - in die Ohrschnecke, griechisch Cochlea, deshalb: Cochlea-Implantat.

Eine Erfolgsgeschichte der Medizin. Von Geburt an gehörlosen Kindern kann die Laut- und Klangwelt - in vielen Fällen kaum eingeschränkt - erschlossen werden. Weshalb manche Kinder nichts hören, hat verschiedene Ursachen. In zwei Dritteln der Fälle werden genetische Gründe vermutet. »Mindestens eines von tausend Neugeborenen ist vom Ausbleiben der Hörimpulse betroffen«, sagt Anke Lesinski-Schiedat, Oberärztin in der HNO-Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover, einem Zentrum für Cochlea-Implantation.

Dass die sogenannte Hörbahn vom Ohr zum Gehirn unterbrochen ist, liegt zumeist an einer massiven Schädigung der Sinneszellen in der Hörschnecke. Sie hat zweieinhalb Windungen und besteht aus zwei häutigen, mit Flüssigkeit gefüllten Röhren. Zwischen ihnen liegt eine weitere, kleinere Röhre, auf deren Membranoberseite sich etwa 30 000 Haarzellen befinden, die am Ende Härchen tragen. »Diese Härchen werden von der Innenohrflüssigkeit umspült, sodass sich bei Schallimpulsen ihre Stellung verändern kann«, erklärt Frau Lesinski-Schiedat. »Das löst an der gegenüberliegenden Zellseite einen elektrischen Impuls aus. Das Signal gelangt dann im Hörnerv zum Hörareal im Gehirn und ruft dort einen akustischen Eindruck hervor.«

Ein Wunderwerk der Natur, hochempfindlich - und störanfällig. Je nachdem, wie hoch der Anteil an geschädigten Haarzellen ist, resultiert daraus Schwerhörig- oder Gehörlosigkeit.

Wie versuchen nun die HNO-Ärzte gemeinsam mit anderen Spezialisten diesen Schaden zu beheben? Die Funktion der Haarzellen übernimmt eine Elektrode in Form eines hauchdünnen Drahtes, der an die Gestalt der Hörschnecke angepasst ist. Ein Leitungsdraht verbindet die Elektrode mit einer Antenne, die samt einem Magneten unter der Haut hinter dem Ohr sitzt (Grafik). Der Magnet hält den eigentlichen Sprachprozessor, der wird außen auf der Kopfhaut getragen. In ihm befindet sich ein Mikrofon sowie ein Chip, der die akustischen Signale in elektrische Stimulationsmuster wandelt. Batterien sichern die Stromversorgung.

Auf diesem Weg gelangen die gewandelten Schallimpulse als elektrische Signale vom Prozessor an die Kontakte, die in die Hörschnecke eingeschoben wurden. Sie reizen nun den Hörnerv, der durch den teilweisen oder gänzlichen Ausfall der Haarzellen nicht beansprucht würde. Der Kontakt muss bei gehörlosen Kindern möglichst früh hergestellt werden, denn im Unterschied zum Innenohr, das sich während der Schwangerschaft vollständig entwickelt, reifen die Neuronen des Hörnervs in den ersten Lebensjahren, und zwar nur, wenn sie auch angeregt werden. Der günstigste Zeitpunkt für das Einsetzen eines Cochlea-Implantats ist nach Lesinski-Schiedat der sechste Lebensmonat. Wird Gehörlosigkeit zu spät erkannt, bleiben nicht mehr behebbare Störungen bestehen.

Auch bei Patienten, die mit zunehmendem Alter stark schwerhörig werden, kann ein Cochlea-Implantat annähernd normales Hören und Sprachverstehen fördern. Nicht selten sind junge oder ältere Hörgeschädigte nur bei hohen Frequenzen taub. Für solche Fälle haben die Chirurgen des HörZentrums Hannover ein Konzept entwickelt, mit dem die Elektrode so eingeführt und platziert wird, dass das in der Schneckenspitze sitzende Hörvermögen für tiefe Töne erhalten bleibt. Es kann am selben Ohr durch ein konventionelles Hörgerät verstärkt werden.

Trotz der komplizierten Eingriffe kommt es selten zu Komplikationen. Inzwischen tragen weltweit etwa 300 000 Menschen ein Cochlea-Implantat, in Deutschland etwa 30 000. Eine solche Operation erfüllt jedoch die hochgesteckten Erwartungen nur, wenn sich ein intensives Hörtraining anschließt. Der Gewinn ist unbezahlbar. Allein wenn man bedenkt, dass taub geborene Kinder mit dem Implantat ihre eigene Sprache hören und beurteilen können, wodurch sie erst in die Lage versetzt werden, sich richtig zu artikulieren! Dadurch finden sie sich nicht nur in unserem lautsprachlich dominierten Alltag zurecht, es eröffnet ihnen auch bessere Bildungschancen.

* Name geändert

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal