Das Deutschlandprojekt

Code Terminal - Die Potsdamer Konferenz der Alliierten vor 70 Jahren. Von Rolf Badstübner

  • Rolf Badstübner
  • Lesedauer: 6 Min.

Am 2. August 1945 um 00.30 Uhr Moskauer Zeit endete im Potsdamer Schloss Cecilienhof die letzte Kriegskonferenz der Hauptmächte der Antihitlerkoalition - der »Großen Drei« - mit einer Erklärung und einem Protokoll, das die Beschlüsse festhielt. Sie setzte sozusagen den Schlusspunkt hinter den Zweiten Weltkrieg in Europa. Die Delegationen werteten die Konferenz, die sich ohne vorher festgelegte Tagesordnung mit einer breiten Themenpalette der internationalen Politik beschäftigte und eine Reihe Probleme relativ schnell klärte, als Erfolg. Der auf den Abendempfängen im Überschwang gepriesene »Geist der Waffenbrüderschaft« war allerdings in den Beratungen selbst oft genug nicht spürbar gewesen.

Die unter dem Codenamen »Terminal« tagende Konferenz belasteten unterschiedliche Interpretationen der Jaltaer Erklärung über das befreite Europa und ein Umdenken von Winston Churchill und Franklin D. Roosevelts Nachfolger Harry S. Truman. Churchill hatte seinen alten Antisowjetismus wiederentdeckt. Die britischen Wähler jedoch, »ruhige Nächte dank der Roten Armee« in frischer Erinnerung, bereiteten ihrem Kriegshelden am 25. Juli eine eklatante Wahlniederlage. An seiner Stelle kam der neue Labour-Premierminister Clement Attlee als Leiter der britischen Delegation nach Potsdam.

Auch Truman tendierte zu einem »harten Kurs« gegenüber der Sowjetunion und glaubte, nach der Meldung über die Einsatzbereitschaft der Atombombe und gezielter Mitteilung darüber an Josef W. Stalin, eine »pax americana« ansteuern zu können. Doch das erwies sich als Irrglaube. Die schon umfänglich und vielfältig fixierten Vertragszwänge waren stärker, noch dazu, weil die Roosevelt-Politik in den USA weiterhin große Zustimmung fand. Ein Buch mit dem Titel »One World or None« avancierte Ende 1945 zum »New York Times«-Bestseller. Laut einer Umfrage befürworteten 54 Prozent der US-Amerikaner die Vereinten Nationen als Weltregierung mit der Befugnis zur Kontrolle der Streitkräfte aller Nationen, einschließlich der USA. Sogar viele US-Militärs waren unter dem Vernichtungsschock von Hiroshima und Nagasaki der Ansicht, dass die Atombombe geächtet oder in irgendeiner Form der internationalen Aufsicht unterstellt werden müsse. US-Kriegsminister Harry L. Stimson zufolge konnte nur eine amerikanisch-sowjetische Partnerschaft zur Zukunft der Atomenergie den Frieden dauerhaft sichern. Der militärisch-industrielle Komplex und die »Falken« befanden sich in der Defensive.

Es gelang schließlich, die wichtigsten Streitpunkte - sowjetische Reparationen, Verlauf der polnischen Ostgrenze, Zusammensetzung der provisorischen Regierungen in Osteuropa und ihre Aufnahme in die UN - über ein Junktim gegenseitiger Kompromisse beizulegen. Fazit: Die Allianz brach nicht ein. Der Kooperationskurs wurde bekräftigt, ausgebaut und fortgesetzt, insbesondere auch durch die Errichtung eines Rates der Außenminister. Dem gemeinsamen Deutschlandprojekt lag ein noch unter Roosevelt zustande gekommenes, allseits akzeptiertes US-Dokument zugrunde, das im Mai 1945 in die Beratende Europäische Kommission eingebracht worden war. Starken Einfluss darauf hatte die marxistische Faschismusanalyse von Franz Leopold Neumann (Frankfurter Schule), die auf der Grundlage seines Werkes »Behemoth« in der Forschungs- und Analyseabteilung des Office of Strategic Services (OSS) des amerikanischen Kriegsministeriums entwickelt worden war und der die sowjetische Delegation unschwer zustimmen konnte.

Das Deutschlandprojekt beurteilte den deutschen Faschismus bzw. »Nationalsozialismus« sowie den preußisch-deutschen Militarismus als Gesellschafts- und Herrschaftssystem, das zu überwinden und radikal zu beseitigen war. Nicht nur Nazis und Militaristen waren im Visier, sondern die Gesamtheit der bürokratischen Funktionseliten des NS-Staates. Dies fand auch im Bericht des Kilgore-Ausschusses des amerikanischen Repräsentantenhauses vom März 1945 seinen Niederschlag, in dem die Verantwortlichkeit und Mitschuld von 42 namentlich benannten deutschen Großindustriellen dargelegt und deren Entmachtung und Bestrafung verlangt wurde.

Die Potsdamer Beschlüsse bekräftigten eine abgestimmte Deutschland- und Besatzungspolitik, deren oberstes Ziel darin bestand, dauerhaft dafür sorgen zu wollen, dass von Deutschland nie wieder ein Krieg ausgehen, nie wieder eine Bedrohung des Friedens und insbesondere seiner Nachbarn erfolgen kann. Die noch in Jalta als Option angedachte Zerstückelung war vom Tisch. Deutschland war nun als wirtschaftlich und politisch Ganzes zu behandeln, was durch die Schaffung einer Reihe deutscher Zentralverwaltungen befördert werden sollte.

Doch es rächte sich, dass Frankreich als vierte Besatzungsmacht nicht in die Potsdamer Beratungen einbezogen worden war und nun - auf Korrekturen auch der deutschen Westgrenze abzielende - Einwände gegen vorzeitige gesamtdeutsche Regelungen erhob.

Dem deutschen Volk wurde bei Erfüllung der alliierten Auflagen und Wiedergutmachungsleistungen die Perspektive eines angemessenen Industrie- und Lebensstandards und der (Wieder)Aufnahme in die Völkergemeinschaft eröffnet. Allerdings hielten die Siegermächte eine territoriale Amputation Deutschlands für unerlässlich. Ausgehend von den nicht zur Diskussion stehenden sowjetischen Grenzen von 1941, zusätzlich des »eisfreien Hafen« Königsberg, erfolgte eine Westverschiebung Polens bis zur Oder und westlichen Neiße, vorbehaltlich einer endgültigen Grenzmarkierung in einem Friedensvertrag. Die Siegermächte hielten auch eine »geordnete« Umsiedlung deutscher Bevölkerungsteile aus den nunmehr nichtdeutschen Gebieten für notwendig.

Die Potsdamer Beschlüsse gaben Handlungsorientierungen für eine koordinierte Denazifizierung, Demilitarisierung, Demonopolisierung, Dezentralisierung und Demokratisierung Deutschlands. Sie ermöglichten es, dass der schon gebildete Alliierte Kontrollrat zügig seine Arbeit aufnehmen konnte und eine koordinierte Besatzungspolitik schnell vorankam. Dem Rat der Außenminister gelang es, bis Ende 1946 die Friedensverträge mit Bulgarien, Finnland, Italien, Rumänien und Ungarn auszuarbeiten. Am 10. Februar 1947 wurden sie in Paris unterzeichnet. Es gab Chancen und Hoffnungen, dass der Friedensvertrag mit Deutschland bald folgen würde, für den auch mit dem neues Völkerrecht begründenden Nürnberger Urteil gegen die Hauptkriegsverbrecher wichtige Grundlagen entstanden.

Der umfangreiche Bericht des Alliierten Kontrollrates an den Rat der Außenminister von Anfang 1947 bilanzierte - ungeachtet von Meinungsunterschieden -, dass bei der Realisierung des Deutschlandprojektes durch die Tätigkeit des Alliierten Kontrollrates - drei Proklamationen, vier Befehle, 43 Gesetze und 40 Direktiven bis Ende November 1946 - und der Militärregierungen bzw. -verwaltungen in allen Besatzungszonen beträchtliche Erfolge verzeichnet werden konnten. Unter Mitwirkung deutscher Verwaltungen, demokratischer Parteien und gesellschaftlicher Organisationen waren umfassende und tiefgreifende gesellschaftspolitische Transformationen vollzogen oder zumindest in Gang gesetzt worden, deren Tragweite dann besonders deutlich wird, wenn man sich vor Augen führt, was sich nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland abgespielt hatte.

Die in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) weithin vollzogenen antifaschistisch-demokratisierenden Umgestaltungen wurden in den Westzonen insbesondere flankiert vom Volksentscheid über die hessische Verfassung und gesondert über den eine Sofortsozialisierung bestimmenden Artikel 41 sowie dem Bodenreformartikel 42, vom »Christlichem Sozialismus« und dem Ahlener Programm der CDU als »Sozialisierung im Sinne der CDU«. Die Realisierungschancen für das mit den Potsdamer Beschlüssen angepeilte entmilitarisierte, neutralisierte Deutschland eines »Dritten Weges« als Brücke zwischen West und Ost in einem kooperativen Europa und für eine deutsche Friedensregelung waren sehr hoch. Doch die Verständigung über eine deutsche Friedensregelung kam nicht zustande.

Stalin blockierte die mehrheitsfähige Föderalisierung, und die US-Amerikaner und Briten befürchteten eine sowjetische Dominanz über ein solches Nachkriegsdeutschland (»Kommunismus am Rhein«). Überhaupt obsiegten nun die US-Rüstungslobby und die »Hardliner« mit der Orientierung auf eine »pax americana«. Auch Stalin beließ es nicht bei dem, was ihm zugebilligt worden war, nämlich einem umgepolten »Cordon sanitaire« im Vorfeld der Sowjetunion. Er ließ vielmehr eine Politik der Sowjetisierung betreiben und suchte seinen Einflussbereich in Griechenland sogar auszudehnen.

Der Kalte Krieg, mit dem eine große historische Chance vertan wurde, markierte gegenüber den Potsdamer Beschlüssen und den mit ihnen verbundenen Perspektiven einen deutlichen Entwicklungsbruch. Er beendete das »Zeitalter von Jalta und Potsdam« und leitete in West und Ost Entwicklungen ein, die mehr oder weniger von den Potsdamer Beschlüssen abwichen, wobei viele, vor allem in der BRD, sogar zurückgenommen wurden. Aber die Beschlüsse waren nicht obsolet und die Signatarmächte sahen sich, wie 1952, weiterhin in der Pflicht, Regelungen der deutschen Frage und eines Friedensvertrages anzustreben. Sie behielten ihre Oberhoheit über Deutschland, die erst mit der Ratifizierung des 2+4-Vertrages 1990 endete, die zugleich auch einen Friedensvertrag ersetzte.

Der in Berlin lebende Geschichtsprofessor ist Experte für die deutsche Nachkriegsgeschichte.

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