Müder Künstler, toller Käfer

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 3 Min.

Landesverrat, ah ja. Fehlt nur der gute alte »Volksschädling«, mit dem eiserne Kanzler einst den Pöbel vom Machtzentrum fernhielten. 53 Jahre nach der »Spiegel«-Affäre erhebt die Bundesanwaltschaft Anklage gegen Journalisten, genauer: die Plattform www.netzpolitik.org. Davon abgesehen, wie vordemokratisch es ist, dass nicht etwa Staatsgeheimnisse strafbar sind, sondern deren Publikation, stinkt das stark nach Bismarck. Pressefreiheit reicht halt auch im Rechtsstaat nur so weit, wie sie die Mächtigen nicht kratzt.

Was sonst noch Juckreiz erzeugt im Mediengeschehen, verblasst vor dieser Ungeheuerlichkeit. Den Rest daher in Stichworten: Inka Bause sitzt bald neben Bohlen in der »Supertalent«-Jury. Die Fusion von ProSiebenSat1 und Springer ist vom Tisch. Der Kanzlerinnenkuschler LeFloid darf ab Dienstag (EinsPlus, 22.45 Uhr) in jenes Regelprogramm, das er auf Youtube verhöhnt. Mission accomplished!

Das dürften vor 70 Jahren auch jene Piloten gefunkt haben, die drei Tage nach dem Abwurf der ersten Atombombe auf Hiroshima nun Nagasaki nuklear verwüstet hatten. Zum Gedenken an ein furchtbares (und weiter ungesühntes) Verbrechen der Menschheit spricht Klaus Scherer am Montag um 23.45 Uhr im Ersten mit letzten Überlebenden und fragt: »Warum fiel die zweite Bombe?«, was Arte tags darauf mit drei Dokumentationen ab 20.15 Uhr ebenfalls tut. Und auch, wenn diesem Thema jede Leichtigkeit fehlt, passt es zum »Summer of Peace«, mit dem der Kulturkanal die Schnittstellen von Krieg und Kultur auslotet. Sonntag läuft ein Prunkstück, Christian Bettges Dokumentation »Peace’n’Pop«, die ab 22 Uhr dem Protestsong im Jahrhundert der Stellvertreterkriege nachgeht.

Bei so viel realpolitischer Härte fällt es schwer, Leichtigkeit zu empfehlen. Aber »Oh Boy«, Jan Ole Gersters Porträt eines modernitätsmüden Lebenskünstlers (Dienstag, 22.45 Uhr), ist nicht nur von hinreißender Lässigkeit; es bildet den Auftakt der Reihe »FilmDebüt im Ersten«, die bis September neun Nachwuchsregisseuren eine prominente Plattform für ihre Erstlingswerke bietet. Der geniale Selbstdarsteller Oli Schulz dagegen muss sich in der famosen Reihe »My Hometown« auf dem Kleinstkanal EinsPlus in seine Hamburger Heimat begeben, deren abseitige Ecken er am Mittwoch um 20.15 Uhr mit herrlicher Schnodderigkeit bewirbt. Apropos Werbung: Dienstag um 18 Uhr umgeht ein anderer Kleinstkanal das Reklameverbot: ZDFkultur überträgt den sportlich irrelevanten, finanziell lukrativen Audi-Cup, der einzig das Ziel hat, den Gastgeber Bayern München, seine Sponsoren und die Gegner aus Mailand oder Madrid mit Millionen zu mästen. Statt dem Ingolstädter Autokonzern aufs Markenlogo zu starren, sei da lieber ein VW namens Herbie empfohlen, der auch auf dem Bildschirm läuft und läuft und läuft: Ab Donnerstag zeigt der Disney-Channel »Ein toller Käfer« von 1968, gefolgt von drei Sequels mit dem lebenslustigen Faltdachmodell Nr. 53, was zwar auch Reklame ist, aber zu nostalgisch, um illegitim zu sein.

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