nd-aktuell.de / 07.08.2015 / Politik / Seite 2

Die vergessene Katastrophe

Die humanitäre Krise in Libyen und den Flüchtlingslagern treibt immer mehr Menschen auf Flüchtlingsboote

Mirco Keilberth, Tripolis
Flüchtlinge und Migranten leiden besonders unter dem anhaltenden Machtkampf der Milizen in Libyen. Hilfe aus dem Ausland bleibt aus.

Tägliche Stromausfälle von mehr als zwölf Stunden, sich durch Entführungen finanzierende Milizen, geschlossene Banken sowie in den Krankenhäusern fehlende Medikamente und Verbandsmaterial haben das öffentliche Leben in Tripolis fast zum Erliegen gebracht. Der in der libyschen Hauptstadt regierende Premierminister Khalifa al-Gawiel versprach zwar eine baldige Besserung der Stromversorgung durch Importe aus dem benachbarten Tunesien. Die ersten Bürgerproteste gegen die Arbeit der international nicht anerkannten »Nationalen Rettungsregierung« gefährden jedoch mittlerweile den Waffenstillstand zwischen den Stadtmilizen Westlibyens.

Die über die libysche Sahara kommenden Flüchtlinge finden immer seltener Arbeit. Auf Baustellen beschäftigte junge Ghanaer und Nigerianer berichten immer wieder, von bewaffneten Jugendbanden um ihren Tageslohn gebracht zu werden. Sobald sie sich die rund 800 Euro für einen Platz auf den günstigen Fischerbooten erarbeitet haben, die zwischen Tripolis und Lampedusa pendeln, machen sich viele auf den Weg zu den bekannten Abfahrtsorten am Strand.

Doch gerade die billigen Plätze auf den ausgedienten Booten aus Tunesien oder Ägypten sind gefährlich. Das mit 600 Menschen völlig überladene Metallboot, das am Mittwoch kenterte, hatte nach einem Motorschaden SOS gefunkt. Als die Rettungsaktion begann, stürmten die Menschen auf die linke Seite. »Mit der Schlagseite sank das 15-Meter-Boot in wenigen Minuten mit vielen Menschen unter Deck«, erklärte ein sichtlich mitgenommener irischer Matrose der »Niamh« auf Lampedusa den Hergang des Unglücks.

Libysche Marineoffiziere in der Hafenstadt Misrata gehen von täglich 800 bis 1000 Menschen aus, die in Schlauchbooten oder Fischerbooten Libyens etwa 2000 Kilometer lange Mittelmeerküste verlassen.

Aya Handa scheint mit dem Schreiben gar nicht mehr aufzuhören. Die 45-jährige Chefin des libyschen Ablegers der Hilfsorganisation Roter Halbmond fertigt auf ihrem betagten Computer eine Liste mit Dingen an, die sie bei ausländischen Botschaften und Nichtregierungsorganisationen anfragen möchte. Die 150 Freiwilligen des Roten Halbmondes finden schon wegen der derzeitigen Hitzewelle von 40 Grad immer dramatischere Zustände in den Lagern für illegal Eingereiste vor. »Den Gesundheitszustand von mehr als 4000 Migranten aus West- und Zentralafrika sehe ich als kritisch an. Libyen ist mit der Situation überfordert, denn mehr als 400 000 vor dem Bürgerkrieg geflohene Menschen müssen ebenso versorgt werden«, so Handa.

Mit dem im Juli begonnenen EU-Militäreinsatz »EUNAVFOR MED« hat sich für die libyschen Freiwilligen nicht viel geändert. Die EU will acht Millionen Euro ins Land schicken, um die humanitäre Lage zu verbessern. Katar bot dem Roten Halbmond den zehnfachen Betrag - allerdings mit der Bedingung, nur in den Gebieten unter der Kontrolle der westlibyschen Islamisten aktiv zu werden. Der Rote Halbmond ist die letzte neutrale Institution in dem Bürgerkrieg der beiden rivalisierenden Regierungen, die sich auch um das Schicksal der Flüchtlinge kümmern müssten.

Die Regierung Gawil hatte gehofft, mit der Inhaftierung der illegal Eingereisten in Europa politisch punkten zu können. Seit der Friedensplan der Vereinten Nationen jedoch das gewählte Parlament im ostlibyschen Tobruk weiterhin anerkennt, lässt man die Menschen gehen.

In den verbliebenen vier Gefängnissen rund um Tripolis grassieren Infektionskrankheiten. »Ich habe noch kein Hilfsangebot aus Europa bekommen«, sagt Aya Handa enttäuscht. Wie viele in Tripolis glaubt sie, dass die Flüchtlinge weiter nach Norden ziehen sollten, solange man Libyen im Stich lässt. Ihr Telefon klingelt. Ein Kollege aus Sirte berichtet von der Entführung junger Äthiopier. Kämpfer des Islamischen Staates drohen, sie wegen ihres christlichen Glaubens umzubringen.