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Boßeln und Bollerwagen

Ostfriesenspiel bestätigt Murphys Gesetz und macht Riesenstimmung. Von René Gralla

  • René Gralla
  • Lesedauer: 5 Min.

Fällt der erste Schnee, rückt Bernd Hellwege zu seiner alljährlichen Charmeoffensive aus. Er startet den Trecker und räumt Straßen und Feldwege, selbst entlegene Anwesen vergisst er nicht. Eine Art Wiedergutmachung sei das, sagt der 53-Jährige, und zwar dafür, dass er in den Monaten zuvor die Nerven der anderen Dorfbewohner mehr als einmal strapaziert hat.

Denn dank Bernd Hellwege ist die 1500-Seelen-Gemeinde Heinbockel-Hagenah westlich von Stade aufgestiegen zur neuen Hochburg eines Freizeitvergnügens, das man normalerweise im ostfriesischen Umfeld von Emden und Aurich vermuten würde. Das Boßeln ist nämlich der Ostfriesen Lieblingsspiel. Und diese Hinter'm-Deich-Version des französischen Boule hat der Gastwirt nun schon vor einiger Zeit ins flache Land zwischen Weser und Elbe importiert. Fast ganzjährig organisiert er entsprechende Fan-Touren und -Turniere. Fast jedes Wochenende ziehen Trupps von Freizeitsportlerinnen und -sportlern durch die Gemeinde, und ihre lautstarke Fröhlichkeit harmoniert dabei nicht immer mit der schwerblütigen Mentalität der Einheimischen - deshalb das winterliche Wiedergutmachungsprojekt ...

Wobei die gute Laune der Boßelnaktivisten garantiert wird durch ein Utensil, dessen gemütliches Rumpeln eine zünftige Partie traditionsgemäß begleitet wie das Raunzen der Vuvuzelas ein Fußballmatch seit der WM in Südafrika. Das ist der unvermeidliche Bollerwagen, zu dessen standardmäßiger Bestückung nicht nur Wasser gehört.

Die Boßelregeln sind recht simpel: Eine vorgegebene Wegstrecke muss mit möglichst wenigen Würfen einer Kugel aus Holz oder Kunststoff überbrückt werden. Doch die Umsetzung hat schon ihre Tücken. Gerne und sehr oft kommt das Teil vom Weg ab, plumpst in einen Graben, verfängt sich in Sträuchern, versteckt sich in einem Ackerloch. Das zerrt an Geduld und Nerven, und mancher »flippt sogar aus, und du wünschst dir dann, du hättest den nicht losgeschickt«, sagt Bernd Hellwege. Allerdings liege die Quote derer, die aus Boßeln eine mobile Ballermannparty machen wollen, bei maximal fünf Prozent, bilanziert der Boßelnpionier.

Vor 25 Jahren war er auf die Idee gekommen, den Gästen seines Landgasthofes zusätzlich zu Speis, Trank und Unterkunft auch Boßeln anzubieten. Die Resonanz ist seither ungebrochen, aus allen deutschen Ecken reisen die Enthusiasten an. Woher der große Spaß bei einem eigentlich doch eher schlichten Spiel komme? »Weil jeder mitmachen kann, denn fürs Boßeln musst du keine besonderen Voraussetzungen mitbringen«, meint Hellwege. »Die Leute sind unterwegs an der frischen Luft, unterhalten sich, das ist locker und gesellig.«

Entsprechend erwartungsfroh ist deshalb auch die Gruppe, die sich da am ersten Augustsonnabend gegen 13 Uhr am Gasthof Hellwege versammelt: Mitglieder der Tanzsportabteilung im Hamburger Sportverein Eidelstedt von 1880, überwiegend Frauen und Männer, die ihre aktive Berufslaufbahn bereits hinter sich haben. Der Bollerwagen steht aufgerüstet bereit, und der Boßelnwirt gibt letzte Tipps. »Ihr müsst Straßen und Wege lesen: Sind sie abgerundet, wellig, holperig, haben sie Spurbahnen? Das ist wichtig, wenn Ihr verhindern wollt, dass die Kugel seitwärts ausbricht.« Anschließend händigt er dem Uwe, dem Längsten des Trupps, eine Stange aus, an der oben ein Fangkorb baumelt. Mit dem »Klootsoeker«, wie ihn die Ostfriesen nennen, können Kugeln nach Fehlschüssen aus Wasser oder wucherndem Grünzeug geholt werden.

Und jetzt wird es ernst. Die blonde Sibylle hat sich den Bollerwagen geschnappt, geht energisch schon mal vor. Im Windschatten folgt Uwe mit dem Kugelkescher. In einigem Abstand folgt der große Rest der Truppe. Als Spielgerät hat Hellwege ihnen eine ganz klassische Holzkugel übereignet. Hans holt zum ersten Schlag aus. Die Kugel, genannt »Pockholter«, klackt perfekt auf die Asphaltstraße, rollt schnurgerade nach ganz vorn in Richtung Sibylle und Uwe, stoppt kurz vor dem Bollerwagen. »Ein perfekter Wurf«, lobt Monika, die Buch führt über jeden Spielzug. Hans bleibt bescheiden: »Glück gehabt, hätte auch anders laufen können.«

Der Mann mit dem sorgfältig gestutzten Bart spricht aus Erfahrung; er ist kein Anfänger. Und gleich nach ihm bestätigt Bärbel die mahnenden Worte: Der Pockholter scheint nach dem Wurf erneut perfekt aufzusetzen, bockt jedoch plötzlich, hüpft in die üppig wuchernde Vegetation parallel zum Parcours. Erster Einsatz für Uwe, der demonstriert, wozu ein Klootsoeker taugt: dorniges Gesträuch zu bändigen und Kugeln heraus zu fischen.

Bald muss Ausputzer Uwe bei jedem zweiten Schlag ran, gründelt nach der Kugel per Suchstab in Entengrütze oder setzt den Klootsoeker wie eine Suchsonde ein. Etwa als sich das Holzteil unter einem Auto versteckt, das ausgerechnet vor einem der ganz wenigen Häuser parkt, die zwischen Maisfeldern und Baumgruppen die Boßelnpiste säumen. »Das Spiel bestätigt Murphys Gesetz in natura«, kommentiert Uwe, der pensionierte Schulleiter, »es geht immer schief, was schiefgehen kann«. Doch Uwe beweist auch die Ausnahme: Er fieselt die Kugel mit Klootsoeker unterm Auto hervor, ohne dass dies einen Kratzer abbekommt.

Schlussbilanz: keine Kugel verloren, und in der Flasche Kirschkorn im Bollerwagen fehlen ganze drei Kurze. »Eine echte Vorzeigegruppe«, kommentiert Bernd Hellwege. Und er kann dem nächsten Winter ein wenig entspannter entgegensehen. Zumindest wegen der Eidelstedter Rentner- und Pensionärstruppe muss er keine Zusatzrunde Wiedergutmachungs-Schneeräumen einplanen.

Boßeln in Heinbockel-Hagenah: www.gasthof-hellwege.de/clubtouren-bosseln

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